1945: Als französische Kollaborateure in der Schweiz Zuflucht fanden

Als das Vichy-Regime fiel, öffnete die neutrale Schweiz ihre Tore. Über 200 französische Würdenträger des Vichy-Regimes und andere Anhänger der Kollaboration mit Nazi-Deutschland fanden zwischen 1943 und 1947 Zuflucht. Offiziell galt eine strikte Asylpolitik – doch in der Praxis zählte Diskretion mehr als Prinzipien.
21. April 1945, vor 80 Jahren. An der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz herrscht dichtes Gedränge. Xavier Pasquier, der sich Propaganda für die Vichy-Regierung betrieb, marschiert an der Seite des Genfer Faschisten Georges Oltramare:
«Am Nachmittag begleitete ich Oltramare bis 200 Meter vor den Zollposten, und dort traf ich auf eine Parade von französischen Kollaborateuren, die wie Oltramare versuchten, in die Schweiz zu gelangen. Es waren vielleicht ein Dutzend Personen, unter denen ich Claude Jeantet vom ‹Petit-Parisien› [französische Zeitung, die während der Besatzung von der deutschen Militärregierung in ein Propagandaorgan umgewandelt wurde] erkannte», sagte Xavier Pasquier später aus.
Ab dem Sommer 1944 zog sich die Schlinge um das Dritte Reich immer enger zu. Die USA und ihre Verbündeten befürchteten, dass Tausende von Nazis, italienischen Faschisten und anderen französischen Kollaborateuren in die neutrale Schweiz strömen würden.
Der Bundesrat beruhigte Washington: «Personen, die der Schweiz gegenüber eine unfreundliche Haltung eingenommen haben, oder die Handlungen begangen haben, die gegen die Gesetze des Krieges verstossen, oder deren Vergangenheit von Auffassungen zeugt, die mit den grundlegenden Traditionen des Rechts und der Menschlichkeit unvereinbar sind, kann kein Asyl gewährt werden.»

Die Regierung erstellte eine Liste mit 6500 Personen, die zurückgewiesen werden sollen, wenn sie an der Grenze auftauchen.
Der Schweizer Historiker Luc van Dongen, Autor des Standardwerks «Un purgatoire très discret» (Ein sehr diskretes Fegefeuer), erklärt: «Für Heinrich Rothmund, der die Polizeisektion im Justiz- und Polizeidepartement leitete, diente die restriktive Haltung gegenüber Verantwortlichen aus dem faschistischen und nationalsozialistischen Europa als Rechtfertigung für die gleiche Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen.»
«Vichy am Genfersee»
Tatsächlich jedoch liess diese angeblich harte Linie zahlreiche Ausnahmen zu. Allein zwischen 1943 und 1947 fanden – nur bezogen auf Frankreich – mindestens 200 Würdenträger des Vichy-Regimes und Kollaborateure Zuflucht in der Schweiz.
Und es handelte sich nicht nur um kleinere Funktionäre wie Xavier Pasquier: Rund ein Dutzend ehemalige Minister, hohe Beamte, Kolonialverwalter und ranghohe Militärs liessen sich am Genfersee nieder.
Genug, um später die pointierte Formulierung des Schriftstellers und Historikers Pierre Assouline zu rechtfertigen: «Vichy-sur-Léman». Andere suchten Unterschlupf in Freiburg oder im Wallis. Von diesen rund 200 Personen wurden 106 von der französischen Justiz verurteilt, 50 davon zum Tode.
Trotz des Wunschs nach guten Beziehungen zum Nachbarland, das nun von General de Gaulle geführt wird, hielt sich die Schweiz bei politischem Asyl an ihre eigenen Regeln.

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Der Schweizer Botschafter in Vichy, Walter Stucki, verteidigte in seinen Memoiren Marschall Pétain, das damalige französische Staatsoberhaupt: «Für mich bleibt es offensichtlich, dass er nur das Beste für sein Land wollte und die Deutschen mehr hasste als jede andere Nation.»
Einige seiner Vertrauten kamen in den Genuss einer gewissen Nachsicht – anders als die Handlanger von Pierre Laval, dem Regierungschef von 1940 und dann erneut von 1942 bis 1944.
«Die Todesdrohung in ihrem Land wirkt sich paradoxerweise zugunsten der Flüchtenden aus», sagt Luc van Dongen. In der Schweiz sieht man diese eher summarische Justiz gegen die Kollaborateure mit Argwohn. Zumindest aus Berner Sicht scheinen hier revanchistische Kommunisten am Werk zu sein.
Der Antikommunismus öffnet Türen

Damit öffnete sich eine Bresche für die Hunderten von Anhängern des Vichy-Regimes, die sich an der Grenze drängten. Um eine Chance zu haben, aufgenommen zu werden, musste man neben den Todesdrohungen auch seine Mässigung, sein Pflichtbewusstsein und seinen Geist des Gehorsams geltend machen.
Raymond Clémoz, Kabinettschef von Joseph Darnand, dem Chef der paramilitärischen «Milice française», kam 1945 in Basel an, «angeblich, um die Niederlassung seiner Frau vorzubereiten und Geld in einer Schweizer Bank zu deponieren», wie van Dongen schreibt.
Clémoz spielte seine Rolle herunter: «Ich habe mich immer in einer Haltung der Weisheit und Mässigung gehalten, aber ich muss sagen, dass meine Arbeit zwar geschätzt wurde, meine Ratschläge jedoch kaum.»
René Landry, Inspektor beim Generalkommissariat für Judenfragen, plädierte ebenfalls für Gehorsam. Die Staatsanwaltschaft liess sich nicht täuschen, aber der Kanton Waadt unterstützte seinen Antrag, da er der Ansicht war, dass «die Landry vorgeworfenen Taten nicht geeignet sind, seine Ehrenhaftigkeit zu beeinträchtigen, und dass er lediglich höheren Befehlen gehorcht hat».
Der Antikommunismus ist ein weiterer sicherer Hafen. Alexandre Lodygensky hatte für Vichy und die deutsche Polizei gearbeitet. Er war jedoch der Bruder von Georges Lodygensky, einem prominenten Mitglied der antikommunistischen Entente Internationale.
«Da die beiden Brüder zusammenarbeiten, um den Kommunismus zu bekämpfen, befürworten wir das gestellte Gesuch», stellte der Bundesanwalt fest.
Bedingung: Unauffällig bleiben
Wer in die Schweiz ins Exil gehen wollte, musste vor Ort über Unterstützung verfügen. In der Schweiz gab es viele konservative Geister, die sich mit den Franzosen solidarisierten, die von der Justiz der Befreiung bedroht wurden.
Die Glücklichsten wurden von Walter Stucki persönlich verteidigt. Dies galt auch für Charles Rochat, den Generalsekretär des Aussenministeriums.
Stucki lobt sie in seinem Buch «La fin du régime de Vichy», wo er die Beamten der Vichy-Diplomatie durchgeht: «Der beste von ihnen, mein Freund, Botschafter Rochat (…) Das sind typische Fälle von guten und ehrlichen Franzosen, die aus voller Loyalität ihre Pflicht darin sahen, dem Eid treu zu bleiben, den sie dem legitimen Staatschef geleistet hatten.» Rochat wird zehn Jahre in der Schweiz bleiben.
Schutzherr Nummer 2: Jean Jardin. Der Kabinettschef von Pierre Laval kam 1942 als Diplomat in die Schweiz. Danach blieb er in der Waadt, wo er von den Behörden geduldet wurde.
Wie sein Biograf Pierre Assouline schreibt, verhalf er vielen Emigrant:innen zu Asyl in der Schweiz, von Coco Chanel über den Schriftsteller Bertrand de Jouvenel bis hin zu George Daudet, einem entschiedenen Anhänger der Kollaboration, der 1947 zum Tod verurteilt wurde und bis zu seinem Tod im Jahr 1958 im Wallis blieb.

Diese Flüchtlinge wurden geduldet, aber nur unter der Bedingung, dass sie nicht mehr politisch oder gar journalistisch tätig waren. Luc van Dongen bemerkt: «Diejenigen, die auf grossem Fuss lebten und in Palästen wohnten, waren bei den Schweizer Behörden sehr unbeliebt. Man musste die Karte der Diskretion spielen.»
Bern wollte keine Schwierigkeiten mit der Französischen Republik. Diese verlor nach und nach das Interesse an den Exilanten.
War die Schweiz bei diesen Franzosen weniger zimperlich als bei den italienischen Faschisten oder den Nazis, die ebenfalls an den Grenzen standen?
Van Dongen erklärt: «Die Eidgenossenschaft konnte keine Beamten oder gar Diplomaten des Dritten Reichs auf ihrem Gebiet dulden. Aber deutsche Ingenieure konnten zugelassen werden. Sie liessen sich manchmal dauerhaft nieder, vor allem in der Chemiebranche.»
Was die Italiener:innen betrifft, so fanden in den Jahren 1943/44 einige wichtige Figuren des faschistischen Regimes Zuflucht, darunter der ehemalige Kulturminister Dino Alfieri und der ehemalige Finanzminister Giuseppe Volpi. Bern rechtfertigte diese Toleranz mit den Bedrohungen, denen sie damals in Italien ausgesetzt waren.
Weiterführende Lektüre (auf Französisch)
Une éminence grise, Jean Jardin (1904-1976), von Pierre Assouline, éditions Balland.
Les intellectuels collaborateurs exilés en Suisse, von Alain Clavien, in Matériaux pour l’histoire de notre tempsExterner Link.
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen mit der Hilfe von Deepl: Janine Gloor

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