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“Arabischer Frühling” reicht nicht bis nach Teheran

Iranische Parlamentsmitglieder fordern am 15. Februar 2011 die Todesstrafe für "Unruhestifter". Reuters

Nach den erfolgreichen Volksaufständen in Tunesien und Ägypten ist es auch zu Unruhen in Algerien, Jemen, Bahrain, Iran und sogar Libyen gekommen. Ein Flächenbrand in der Region sei aber nicht zu erwarten, sagt Nahost-Experte Werner van Gent.

Die ersten Massendemonstrationen im Nahen Osten der Youtube-Generation fanden 2009 im Zusammenhang mit der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Ahmadinedschad in Iran statt. Daraus wurde aber kein “arabischer Frühling” wie in Tunesien und Ägypten.

swissinfo.ch: War oder ist die Repression in Iran so stark, dass ein erfolgreicher Volksaufstand nicht möglich ist, oder gibt es andere Gründe?

Werner van Gent: Die harte Repression ist der wichtigste Grund, weil das Land im Dezember 2009 vor allem in Teheran und den grossen Städten kurz vor dem Bürgerkrieg stand. Es gab eine ganz harsche Repression, aber auch auf Seiten der Opposition wurde mit harten Bandagen gekämpft.

Die Opposition hat dann zurückgesteckt, und die Leute haben sich gesagt, wir wollen ein neues Regime, aber kein Blutbad. Insofern war die Repression erfolgreich. Aber gerade in diesen Tagen sehen wir, dass das Feuer unterschwellig noch vorhanden ist. Der Wille zu einem friedlichen Regimewechsel ist in Iran nach wie vor sehr stark.

swissinfo.ch: Wie unterscheidet sich die iranische von der ägyptischen Armee?

W.vG.: Wenn man von der Armee spricht in Iran, dann sind eigentlich die Revolutionswächter, die Pasdaran, gemeint. Es gibt daneben noch eine reguläre Armee. Aber die wirkliche Macht haben die Pasdaran. Beide werden vom höchsten geistlichen Führer, Ali Chamenei, direkt gesteuert. Er ist der Oberbefehlshaber.

Die Loyalität vor allem der Pasdaran zum Regime ist viel grösser als jene der ägyptischen Armee. Präsident Ahmadinedschad ist direkt aus den Pasdaran hervorgekommen. Die Pasdaran sind auch ein Wirtschaftsfaktor, sie haben grosse Bau- und Infrastrukturaufträge vom Staat erhalten. Sie sind Teil des Regimes, ähnlich wie die alten Generäle der ägyptischen Armee.

swissinfo.ch: Weil in Ägypten die Soldaten sowie die Hauptleute und subalternen Offiziere eher dem Volk zugeneigt sind, war die Armee dort nicht das wichtigste Repressionsinstrument, sondern die Mubarak-Polizei. Und in Iran?

W.vG: Das iranische Pendant zur ägyptischen Polizei sind die paramilitärischen Basiji, die Freiwilligen, die Milizen, rund zwei Millionen junge Männer. Die wurden ab Juni 2009 eingesetzt, um die Oppositionsbewegung niederzuknüppeln.

swissinfo.ch: Welchen Einfluss haben die USA, die EU und die Schweiz auf die politische Entwicklung in Iran?

W.vG.: Das Regime sagt natürlich, die Opposition werde von all diesen Staaten unterstützt. Ich glaube das nicht. Es ist eine Entwicklung, die von innen heraus kommt, die von aussen schwer zu steuern und auch schwer zu unterstützen ist.

swissinfo.ch: Stärkt der Westen politisch und durch seine Wirtschaftsbeziehungen die revoltierende Bevölkerung in Iran oder die Position des Regimes?

W.vG.: Es gibt wegen der Atomfrage ja die Sanktionen. Es ist umstritten, wen diese treffen. Gewisse Leute in Iran sagen, es treffe eigentlich die normale, mittelständische Bevölkerung, die Geschäfte machen wolle. In den USA und in Europa gibt es dagegen Stimmen für noch schärfere Sanktionen. Nur so lenke das Regime ein, sagen sie. Für mich ist das sehr blauäugig.

swissinfo.ch: In Algerien, Jemen, Bahrain und sogar in Libyen brodelt es auch. Ist in diesen Ländern eine Entwicklung wie in Tunesien und Ägypten denkbar?

W.vG.: In Algerien ist es ähnlich wie in Iran. Das Regime ist mit einem Teil der Gesellschaft, vor allem der Armee, stark liiert. Der Funke einer Opposition ist da, aber er greift nicht über. Die Repression ist auch in diesem Land sehr stark.

Jemen ist eine andere Geschichte. Es ist ein zweigeteilter Staat, Nord- und Südjemen, eine Stammesgesellschaft. Dann gibt es noch den Konflikt mit den Schiiten im Norden. Man muss damit rechnen, dass das Land völlig auseinanderfällt, wenn Präsident Saleh weg ist.

In Bahrain ist die Lage sehr kritisch. Die Schiiten bilden die Mehrheit der Bevölkerung. Die politische Macht haben aber die Sunniten – der König ist Sunnite. Es gibt dort Schlägertruppen, die aus Bangladesch kommen und die Schiiten zusammenschlagen. Der König wird dank der Repression die Kontrolle wahrscheinlich noch eine Zeit lang behalten können.

Dass in Libyen, wo Revolutionsführer Gaddafi stark ist, so viele Leute auf die Strassen gehen, ist für mich überraschend. Es ist schwierig, da Voraussagen zu machen. Gaddafi hatte ja dem tunesischen Regime von Präsident Ben Ali viel Geld gegeben, um es an der Macht zu erhalten. Jetzt hat Gaddafi Angst. Die Repression in Libyen ist sehr hart.

swissinfo.ch: Das türkische System mit einer gemässigten islamischen (sunnitischen) Regierung wird von vielen Experten als Modell für andere Länder im Nahen Osten erwähnt. Wäre ein solches System auch für den schiitischen Iran denkbar?

W.vG.: Es gibt da grosse Unterschiede. Die Rolle der schiitischen Religion ist ganz anders als die immer staatstragende sunnitische Religion. Für Ägypten wäre die Türkei eher ein Modell.

Im Westen muss man endlich begreifen, dass es auch einen politischen Islam geben kann, der nicht gefährlich sein muss. Mubarak hat Jahre lang geschickt Angst verbreitet und gesagt, wenn ich weg bin, dann kommen die Muslimbrüder. Jetzt hat sich während des Volksaufstands in Ägypten herausgestellt, dass diese einen gar nicht so grossen Einfluss auf die Gesellschaft haben. Die Twitter- und Facebook-Generation wird nicht mehr von der Moschee kontrolliert.

Es kann eine islamistisch orientierte Bewegung geben, die sehr konservativ sein wird. In der Türkei ist der politische Islam konservativ, aber gleichzeitig staatstragend.

Darum bin ich ein wenig vorsichtig mit dem türkischen Modell für Iran, denn in Iran war die Religion mit Ausnahme der Zeit seit Khomeini eigentlich nie staatstragend. Und überhaupt muss jedes Land seine eigenen Erfahrungen machen.

Im libyschen Benghasi haben am Freitag erneut tausende Demonstranten gegen Staatschef Muammar al-Gaddafi demonstriert. Augenzeugen zufolge patrouillierten Soldaten in den Strassen der zweitgrössten Stadt des Landes.

In Benghasi und andernorts sollen mehrere Regierungsgegner beigesetzt werden, die am Donnerstag bei heftigen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften getötet wurden. Die Zahl der Todesopfer bei den Protesten der vergangenen Tage lag bei mindestens 20.

Der US-Sender CNN zeigte Bilder des staatlichen libyschen Fernsehens von Freitag, die öffentliche Unterstützung für Gaddafi zeigen sollten. Dort waren Regierungsanhänger in Tripolis zu sehen.

Gaddafi ist bereits seit mehr als 40 Jahren an der Macht. Viele Libyer beklagen Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit und begrenzte politische Freiheiten. Gleichwohl halten Beobachter einen Volksaufstand wie im Nachbarland Ägypten für unwahrscheinlich. Denn die libysche Führung kann den Öl- und damit auch den Geldhahn aufdrehen und die meisten sozialen Probleme mildern.

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) rät seit Donnerstag von Reisen in den Golfstaat Bahrain ab. Es müsse mit weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen und einer Verschlechterung der Lage gerechnet werden.

Das Aussendepartement begründet den Schritt mit der gewaltsamen Auflösung der Kundgebungen der Opposition und dem Einsatz der Armee in dem Golfstaat.

Auch bei Reisen in andere Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens rät das EDA derzeit zur Vorsicht.

Die Reisewarnung für Ägypten und Tunesien wurden dagegen entschärft. Badeorte am Roten Meer und an der tunesischen Küste gelten nicht mehr als gefährdet.

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