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“Es gibt europaweit keine soziale Bewegung”

Grösste 1. Mai-Kundgebung der Schweiz: Zürich. Ex-press

Entlassungen, Boni, Löcher im Bankgeheimnis: Die Schweiz steckt in der grössten Krise seit Jahrzehnten. Die Linke scheint daraus bisher wenig Profit zu schlagen. - swissinfo-Analayse mit dem Politologen Hans Hirter und dem Präsidenten der SP, Christian Levrat.

“Die Leute wissen vielleicht noch gar nicht so recht, was das für eine Krise ist. Sie hat noch nicht so ganz konkrete Auswirkungen auf ihre Lebensführung, auf ihren Arbeitsplatz”, sagt Hans Hirter.

Linke und Gewerkschaften seien “zwar in den Medien und mit Vorschlägen sehr präsent, aber ich glaube nicht, dass sie sich auf Wähleranteile oder auf die Mobilisierung der Wählerschaft auswirken werden.”

Es gebe sehr viel Wut und sehr viel Frust bei den Leuten, sagt Levrat. “Es ist aber nicht gelungen, das positiv umzudrehen. Die Krise drückt sich vielmehr in Spontanaktionen an der Grenze der Legalität aus,”sagt Levrat in Anspielung auf die Entführung von Managern in Frankreich.

Rudern und schlafen im selben Boot

“Was sicher stimmt ist, dass es europaweit keine soziale Bewegung gibt, in der auch Zukunftsprojekte im Zentrum stehen” so Levrat. “Der andere Teil der Erklärung ist die Haltung der Bürgerlichen und insbesondere des Bundesrates, wonach wir alle im gleichen Boot sitzen. Ich glaube aber, dass einige noch rudern und die Andern oben in der Schlafkabine ihre Heimat gefunden haben.”

Konkret meint der SP-Präsident damit, dass die “realen Opfer der Krise nicht die Topbanker sein werden, sondern die normalen Angestellten. Sie werden am Schluss den Preis zahlen, über schwindende Kaufkraft, über höhere Arbeitslosigkeit und über Sparrunden bei der öffentlichen Hand. Es muss uns gelingen, das klarer zu kommunizieren”.

Dass bisher vor allem die Grossbank UBS Entlassungen im grossen Stil angekündet habe, mache es für die Linke nicht einfacher, diagnostiziert Hans Hirter: “Mit höheren Bankangestellten, die sowieso global unterwegs sind, lässt sich keine Solidaritätswelle aufbauen. Es wäre sicher ein ganz anderes Potential vorhanden, wenn Arbeiter in der Maschinenbranche oder Werkstattarbeiter im Tessin betroffen wären.”

Druck von aussen, statt demokratische Prozesse

Die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung ist eine alte Forderung der Linken. Dass der Unterschied nun aufgehoben wird, kann sie dennoch nicht als ihren Erfolg verbuchen.

“Es ist so gekommen, wie wir es gefordert haben”, sagt Levrat. “Die Schwierigkeit sehe ich darin, dass uns sehr viele Massnahmen vom Ausland aufgezwungen werden und dass das nicht im internen demokratischen Prozess abläuft.”

Das sei für die SP eine “zwiespältige Situation” sagt Hans Hirter. Sie könne die Lockerung des Bankgeheimnisses nicht zu offensiv loben, sonst laufe sie Gefahr, in die “falsche Ecke gestellt” und als “Landesverräterin wahrgenommen” zu werden: “Der schärfste Kritiker der Steuerhinterziehung, der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück, ist Sozialdemokrat.”

Kein ultimatives Symbol

Er habe Genosse Steinbrück einen Brief geschrieben und ihn gebeten, “mit der Schweiz innerhalb der normalen diplomatischen Sitten umzugehen”, erzählt Levrat: “Das Problem ist nicht seine Haltung, sondern die Tonlage. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ist überzeugt, dass wir keine Steuerflüchtlinge aufzunehmen haben. Sie ist aber nicht bereit, ihre privaten Daten irgendwem zur Verfügung zu stellen.”

Er glaube zudem nicht, dass die “bürgerliche Rhetorik” um das Bankgeheimnis als “ultimatives Symbol des Patriotismus” bei der Bevölkerung wirklich ankomme. “Die Leute durchschauen das Spiel. Es geht hier vor allem um die Interessen von sehr reichen Leuten, die zulasten der Normalbürger nicht bereit sind, ihre Steuern zu bezahlen.”

Bürgerlicher Widerstand

Hans Hirter sagt zur Steuergerechtigkeit in der Schweiz: “Die Linke würde gut daran tun, nicht mehr Steuern von den Reichen zu verlangen. Das ist viel schwieriger, als in Deutschland. Die Selbstverantwortung und die Selbstbestimmung sind bei uns viel grösser.” Stattdessen solle sich die Linke dafür einsetzen, dass Steuerhinterziehung mit “besseren Massnahmen” bekämpft werde.

“Das machen wir mit System. Ich habe kurz nach meinem Amtsantritt verlangt, dass die Anzahl der Steuerinspektoren, die auf grosse Fälle angesetzt sind, verdoppelt werden”, so Levrat.

“Wir scheitern aber immer noch am Widerstand von Finanzminister Hans-Rudolf Merz und der bürgerlichen Parlaments-Mehrheit, die alles macht, um die grossen Steuerbetrüger zu schützen. Wir schaden dem Ruf des Landes massiv, wenn wir ausländische und auch inländische Steuerbetrüger schützen.”

swissinfo, Andreas Keiser

Dem 1. Mai komme vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschaftskrise tatsächlich eine besondere Bedeutung zu, sagt der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Paul Rechsteiner.

Die Zahl der Teilnehmer an den 1. Mai-Feiern sei allerdings schon seit den 1990er-Jahren am Steigen.

Er gehe davon aus, dass wegen der Krise und der Abzockerei, welche diese Krise ausgelöst habe, mehr Leute als üblich an den Feiern teilnehmen werden, sagt Andreas Rieger, Co-Präsident der Gewerkschaft Unia.

Die Kundgebungen seien schon heute das Ereignis, das am meisten Leute für soziale und politische Anliegen auf die Strasse bringe.

Die Gewerkschaften konnten dennoch bisher kaum Kapital aus der wirtschaftlichen schlechten Situation schlagen, denn die Mitgliederzahlen gingen auch 2008 zurück.

Der 1. Mai ist der einzige nichtreligiöse, weltweit begangene Feiertag.

Das Datum erinnert an den blutigen Streik in Chicago von 1886, der sich für einen 8-Stunden-Tag einsetzte.

1889 proklamierte der internationale Arbeiterkongress den 1. Mai als Tag der Arbeit.

In der Schweiz wurde der 1. Mai 1890 in 34 Orten gefeiert. Der Gewerkschaftsbund zählte 5000 Mitglieder. Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz war 9 Monate früher gegründet worden.

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