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“Gleichstellung: Eine Frage guter Regierungsführung”

79% der Frauen und 51% der Männer glauben, dass das Geschlecht einen Einfluss auf die Karriere hat. RDB

Gewalt, Belästigungen, tiefere Löhne, Beruf und Familie, Aufgabenteilung. Unvermeidliche Schlagworte am 8. März, dem Internationalen Tag der Frau. Ein Treffen mit Sylvie Durrer, seit einem Jahr Leiterin des Eidgenössischen Gleichstellungsbüros.

Noch immer liegt das durchschnittliche Einkommen von Frauen in der Schweiz 18,4% unter jenem der Männer mit gleichwertiger Qualifikation.

Solange diese Zahl (unter anderem) nicht zurückgeht, will “Madame Egalité”, die sich selber als “entschlossen und pragmatisch” bezeichnet, nicht aufgeben, die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen in der Unternehmenskultur festzusetzen.

swissinfo.ch: Welche Bilanz ziehen Sie nach einem Jahr als Leiterin des Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann?

Sylvie Durrer: Die Situation ist durchzogen. Im Bildungswesen ist die Gleichstellung gut angelaufen, auch wenn die Berufswahl noch immer sehr stereotyp verläuft. Wir haben Fortschritte im Bereich häusliche Gewalt festgestellt, wo es 2011 im Vergleich mit 2010 zu 3 Prozent weniger Zwischenfällen gekommen ist. Das ist ermutigend.

Diese Fortschritte haben die Schaffung rechtlicher Grundlagen, institutioneller Mechanismen und von Gremien erlaubt, die für die Umsetzung verantwortlich sind. Doch wir müssen wachsam bleiben und nicht denken, dass sich alles von alleine verbessert. Was beispielsweise die Lohnungleichheit oder die Aufteilung zwischen Beruf und Familie angeht, ist die Situation noch sehr unbefriedigend.

swissinfo.ch: Bei Ihrer Nominierung haben Sie angekündigt, Sie möchten, dass sich mehr Männer für die Gleichstellung interessieren. Wie wollen Sie das erreichen?

S.D.: Wir wollen die Partnerschaft intensivieren, namentlich indem wir die Kommunikation mit männlichen Milieus und mit Unternehmen betreffend den finanziellen Mitteln verbessern, welche die Eidgenossenschaft zur Verfügung stellt. So unterstützen wir beispielsweise ein Projekt, das Männer ermutigt, den Lehrerberuf zu ergreifen.

Wir versuchen auch, kleine und mittlere Unternehmen (KMU) zu unterstützen. So finanzieren wir 50 Prozent des Projekts eines Transportunternehmens, das mit einem neuen Zeit-Management die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern will. Das Ziel: Zufriedenheit im Job, loyalere Mitarbeitende und weniger Absenzen.

Zudem sind wir bestrebt, die Auswirkungen der Lohnungleichheit zu erklären: Das Geld, das eine Frau weniger verdient, fehlt auch in der Ehe, in der Familie, im Fall von Arbeitslosigkeit oder bei der Pensionierung.

Selbst bei einer Scheidung fällt die Lohnungleichheit ins Gewicht: Der Ex-Mann muss den Fehlbetrag ausgleichen – oder die Sozialwerke, die gezwungen sind, viele Alleinerziehende zu unterstützen. Wir haben daher alle ein Interesse daran, dieses Problem zu regeln.

swissinfo.ch: Der Kanton Waadt denkt darüber nach, die Überwachung der Lohnungleichheit in Unternehmen einzuführen, ähnlich dem Modell der Kontrollen gegen Schwarzarbeit oder Lohndumping. Was halten Sie davon?

S.D.: Dieses Projekt ist interessant, besonders weil der Kanton Waadt die Kontrolle im Rahmen einer tripartiten Kommission zwischen Unternehmen, Angestellten und Staat festschreiben will. Der Kanton scheint auf eine pragmatische Lösung abzuzielen, ähnlich jener des Bundesrats.

Allerdings hat dieser festgehalten, dass er ein Modell der Kontrolle anvisieren würde, sollte er im Dialog keine wesentlichen und raschen Verbesserungen feststellen.

swissinfo.ch: Nun sind sich aber die Frauen selber in Fragen des Feminismus uneins. Junge Frauen lachen sogar darüber…

S.D.: Das erstaunt mich nicht. Weil die Gleichstellung in der Schule umgesetzt worden ist, merken sie erst im Laufe der Zeit, dass sie in der Arbeitswelt oft nur die zweite Geige spielen. Wenn sie dann eine Familie haben, sind viele geschockt, weil sie keine derartigen Schwierigkeiten erwartet hatten.

swissinfo.ch: Die wirtschaftlichen Nöte schlagen sich auf die Gleichstellungspolitik nieder. Im Kanton Zug etwa wurde die Gleichstellungs-Kommission aufgehoben, eine Beschwerde gegen die Schliessung wurde vom Bundesgericht in Lausanne abgewiesen. Befürchten Sie Rückschritte in der Gleichstellung?

S.D.: Der Kanton Zug hat nicht vollumfänglich Recht bekommen. Das Bundesgericht hat klar gesagt, dass die Gleichstellung noch nicht erreicht sei und daher institutionelle Mechanismen bestehen müssten, deren Form variieren könne. Das bedeutet, dass die Gleichstellung weiterhin eine Verpflichtung bleibt, dass sie keinesfalls im Pflichtenheft vergessen geht.

Interessant ist auch, dass sich das Bundesgericht teilweise auf die Konvention gegen die Diskriminierung der Frau stützt und an unser Engagement in dieser Sache erinnert hat.

Noch einmal: Die Gleichstellung ist nicht nur eine juristische, sondern auch eine Frage guter Regierungsführung sowie ein wirtschaftlicher Trumpf. Nehmen wir als Beispiel Ecuador, das seit Jahren grössere Probleme hat. Trotz Sparmassnahmen hat das Land beschlossen, seiner öffentlichen Gleichstellungspolitik höchste Priorität einzuräumen und die nötigen Gelder dazu zur Verfügung zu stellen. Heute kennt das Land ein Wachstum von 8%.

Oder Island, das trotz der Krise weiterhin in die Gleichstellung investiert, unter Berücksichtigung, dass seine wichtigsten Ressourcen menschlich und intellektuell sind und die Gleichstellung und die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie es erlauben, diese voll auszuschöpfen.

Die Schweiz ist ebenfalls ein Land, dessen wichtigste Ressource die menschliche Intelligenz ist. Sie muss sich voll und ganz ausdrücken können – egal ob sie von einem Mann oder einer Frau stammt.

1868: Gründung des ersten feministischen Vereins. Die Mitglieder verlangten zivile Rechte und den Zugang zur Universität.

19. März 1911:

Erster internationaler Frauentag in Deutschland, Österreich, Dänemark und der Schweiz. Später wurde der Tag auf den 8. März gelegt. Er wird weltweit jedes Jahr begangen, auch von der UNO.

  

1971: Annahme des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene. 1959 war das Stimmrecht den Frauen noch verwehrt worden.

1981: Der Gleichstellungsartikel wird in der Bundesverfassung verankert.

1988: Gründung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann.

1996: Das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann tritt in Kraft. Es untersagt die Diskriminierung im Erwerbsleben, namentlich bei der Entlöhnung.

14. Juni 1991: Um den Gleichstellungsprozess zu beschleunigen, beteiligen sich 500’000 Frauen am ersten Frauenstreik.

1960: Geboren in Lausanne.

Ab 1992: Doziert französische Linguistik an der Universität Zürich.

Ab 2001: Assistenzprofessorin für Sprachwissenschaft an der Universität Lausanne.

 

Ab 2006: Leiterin des Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann des Kantons Waadt.

Gemäss einer Vergleichsstudie der Universität George Washington (Washington DC), die am 6.3.2012 von der amerikanischen Botschaft in Bern präsentiert wurde, haben 61% der Schweizer Männer nicht das Gefühl, dass Frauen Hindernisse überwinden müssen, um in Führungspositionen zu kommen. 73% der Frauen hingegen sind von solchen Hindernissen überzeugt.

89% der Männer und 54% der Frauen sind gegen die Einführung von Quoten für Frauen für Verwaltungsräte von Unternehmen.

Zwei Drittel der 1100 Befragten und 89% der Frauen sind der Meinung, dass eine Schwangerschaft sich negativ auf die Arbeit auswirkt.

Um die Situation der Frauen in der Arbeitswelt in den USA und der Schweiz zu vergleichen, wurden für die Studie “Gender Equality in Employment” (Geschlechter-Gleichheit in der Arbeitswelt) 1100 Personen befragt, 85% weiblich.

(Quelle: SDA)

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub und Gaby Ochsenbein)

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