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“Ich habe gelernt, wie grausam Krieg sein kann”

Carla Del Ponte, scheidende Chefanklägerin und künftige Schweizer Botschafterin.

Die Chefanklägerin des UNO-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, Carla Del Ponte, gibt Ende Dezember nach über acht Jahren ihren Posten ab. Sie wird Schweizer Botschafterin in Argentinien.

Leider seien die Menschen überall zu schrecklicher Gewalt fähig, erklärt sie gegenüber swissinfo. Umso wichtiger sei deshalb eine funktionsfähige Justiz auf nationaler wie auf internationaler Ebene.

swissinfo: Ende Jahr verlassen Sie Den Haag. Was für ein Gefühl ist das?

Carla Del Ponte: Ich bin bereit, weiterzuziehen. Ich mache diese Arbeit seit mehr als acht Jahren und freue mich auf die neue Herausforderung.

swissinfo: Wie beurteilen Sie die Ergebnisse Ihrer Tätigkeit als Chefanklägerin? Haben Sie erreicht, was Sie wollten?

C.D.P.: Meine Kollegen und ich haben viel erreicht: Wir haben 63 Anklagen erhoben und 91 Angeklagte in Gewahrsam genommen. Gegen 44 von ihnen wurde der Prozess eröffnet und abgeschlossen.

Wir haben unter anderem beweisen können, dass in Srebrenica Völkermord verübt wurde, dass in Ex-Jugoslawien während des Krieges Vergewaltigungen als Schreckensinstrument eingesetzt wurden und dass Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung während der Belagerung von Sarajewo die Höchststrafe verdienen.

Wir haben einen amtierenden Staatspräsidenten, Ministerpräsidenten, Armeechefs, Polizeichefs und hochrangige Politiker strafrechtlich verfolgt. Dank unserer Arbeit lautet die Frage nicht mehr, ob, sondern wann Kriegsverbrecher belangt werden.

Das Tribunal hat auch Tausenden von Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen und ihnen eine Stimme gegeben, mehr als 3500 von ihnen haben vor Gericht als Zeugen ausgesagt.

Der Gerichtshof hat die Justiz im früheren Jugoslawien immer wieder ermutigt, ihre Arbeit weiterzuführen, mit den lokalen Behörden zusammenzuarbeiten und löste so in diesen Ländern Justizreformen aus.

Der Haager Gerichtshof hat auch zur Entwicklung internationalen Rechts beigetragen und zur Schaffung weiterer internationaler Gerichte angeregt, etwa in Ruanda, Sierra Leone oder Kambodscha.

swissinfo: Sie haben Slobodan Milosevic vor Gericht gebracht. Den bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic sowie dessen Armeechef Ratko Mladic konnten Sie nicht dingfest machen. Sind Sie enttäuscht?

C.D.P.: Ich hoffe noch immer, dass sie bald verhaftet werden.

swissinfo: Warum ist es Ihnen nicht gelungen, diese beiden Kriegsverbrecher festzunehmen?

C.D.P.: Zuerst einmal: Das Tribunal verfügt über keine eigene Polizeitruppe, die Verhaftungen vornehmen könnte. Dass Mladic und Karadzic noch immer frei sind, hat vor allem damit zu tun, dass die internationale Gemeinschaft unmittelbar nach dem Krieg und die Nachfolgeregierungen in Serbien nach dem Sturz von Milosevic es versäumt haben, die beiden festzunehmen.

Erst jetzt, Ende 2007, zwölf Jahre nach dem Krieg, sechs Jahre nach dem Sturz Milosevics und neun Monate nach dem Entscheid des Internationalen Gerichtshofes über die Mitschuld Serbiens am Völkermord in Srebrenica, scheint es in Serbien einen politischen Willen zu geben, Mladic zu verhaften.

swissinfo: Haben Sie von der EU und den USA genügend Unterstützung erhalten?

C.D.P.: Das war über all die Jahre hinweg sehr unterschiedlich: Manchmal war die Unterstützung gross, manchmal ungenügend. Ohne Unterstützung der internationalen Gemeinschaft könnten wir unser Mandat nicht erfüllen.

In den letzten Jahren hat sich die EU-Politik der Bedingtheit – sie macht finanzielle Unterstützung oder die Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation davon abhängig, ob Serbien das Tribunal unterstützt – als effizientes Instrument erwiesen, um die Behörden in Belgrad und Zagreb zu zwingen, ihre internationalen Verpflichtungen wahrzunehmen und mit dem Gerichtshof zusammenzuarbeiten.

Dank dieser Politik konnte die Mehrheit der über 30 Flüchtigen, die in den letzten drei, vier Jahren in Gewahrsam genommen wurden, nach Den Haag überführt werden. Wir zählen weiterhin darauf, dass die Europäische Union auf Serbiens volle Zusammenarbeit mit dem Tribunal besteht – als Bedingung für einen allfälligen Beitritt in die EU.

swissinfo: Der Umgang mit Massakern, Grausamkeit, potentiellen Kriegsverbrechern gehört zu Ihrer täglichen Arbeit. Hat sich Ihre Haltung gegenüber Menschen dadurch verändert?

C.D.P.: Ich habe viel über die Grausamkeiten des Krieges gelernt. Meine Meinung gegenüber Menschen hat das jedoch nicht wirklich beeinflusst. Wenn wir das Geschehen auf der Welt betrachten, stellen wir leider fest, dass die Menschen überall zu schrecklicher Gewalt fähig sind.

Umso wichtiger ist es, eine funktionsfähige Justiz zu haben, auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene.

swissinfo: Diesen Sommer haben Sie an einer Pressekonferenz in Brüssel gesagt: “Ich bin keine Diplomatin.” Nun werden Sie Schweizer Botschafterin in Argentinien. Können Sie diesen Widerspruch erklären?

C.D.P.: Ich sehe darin keinen Widerspruch. Als Anklägerin kann ich keine Diplomatin sein. Als Botschafterin werde ich meine diplomatischen Pflichten so gut wie möglich ausüben.

swissinfo: Wie kann eine Carla Del Ponte, wie wir Sie kennen, diplomatisch werden?

C.D.P.: Ein anderes Mandat bringt andere Verpflichtungen mit sich.

swissinfo: In den letzten Jahrzehnten mussten Sie immer wieder um Ihr Leben fürchten. Sie gehören zu den bestgeschützten Schweizer Persönlichkeiten. Wird das in Argentinien so bleiben?

C.D.P. Dies zu entscheiden, liegt bei den Regierungen der Schweiz und Argentiniens.

swissinfo-Interview: Gaby Ochsenbein

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) mit Sitz in Den Haag wurde am 25. Mai 1993 vom UNO-Sicherheitsrat gegründet. Im Dezember 1994 nahm der ICTY seine Tätigkeit voll auf.

Er ist zuständig für die Verfolgung von schweren Verbrechen, die ab 1991 auf dem Territorium des früheren Jugoslawien begangen wurden.

Besonderes Interesse erregte der im Februar 2002 begonnene Prozess gegen Slobodan Milosevic, den Präsidenten Jugoslawiens und später Serbiens. Milosevic verstarb kurz vor Abschluss seines Prozesses im März 2006.

Derzeit noch flüchtig sind u.a. Radovan Karadzic, Führer der bosnischen Serben, und Ratko Mladic, Armeebefehlshaber der bosnischen Serbenrepublik.

Geboren 1947 in Bignasco, im Südschweizer Kanton Tessin.

Sie studierte in Bern, Genf und Grossbritannien internationales Recht.

1981 wurde sie Tessiner Staatsanwältin.

Bekannt wurde sie durch ihren Kampf gegen Geldwäscherei, organisierte Kriminalität und Waffenschmuggel.

Del Ponte war von 1994 bis 1999 Bundesanwältin. Ihre Arbeit wurde unterschiedlich bewertet. Verschiedene Seiten warfen ihr “Aktivismus” vor.

1999 ernannte sie UNO-Generalsekretär Kofi Annan zur Chefanklägerin des UNO-Kriegsverbrechertribunals.

Ende 2007 wird sie dieses Amt abgeben.

Im Januar 2008 wird die 60-jährige Tessinerin ihre neue Tätigkeit als Schweizer Botschafterin in Argentinien antreten.

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