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Geldstrafen sind zu wenig abschreckend

Gefängnisstrafen gefordert: Die SVP spricht im Zusammenhang mit Geldstrafen von "Kuscheljustiz". RDB

Geldstrafen statt kurze Gefängnisstrafen: 18 Monate nach der Einführung des revidierten Strafgesetzbuches kritisieren zahlreiche Magistraten und Politiker das neue Sanktionssystem.

20 Jahre hat das Parlament daran gearbeitet, bis das revidierte Strafgesetzbuch am 1. Januar 2007 in Kraft trat.

Nun will die politische Rechte die Baustelle wieder öffnen: Sie kämpft gegen das neue Sanktionsregime, das Geldstrafen an Stelle kurzer Gefängnisstrafen ermöglicht.

Am 5. Juni 2008 hat die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) eine parlamentarische Initiative eingereicht, die verlangt, dass die Geldstrafe abgeschafft oder nur noch subsidiär zu einer Freiheitsstrafe oder zu gemeinnütziger Arbeit angewandt werden soll.

«Aus verschiedenen Gründen funktioniert dieses System überhaupt nicht oder es hat zumindest nicht die gewünschte Wirkung», heisst es in der parlamentarischen Initiative, die von den beiden Parlamentariern Isabelle Moret und Christian Lüscher eingereicht wurde.

Nur einen Monat später bezeichnet die Schweizerische Volkspartei (SVP) vor der Presse die neue Straftrechtsrevision als «Kuscheljustiz». Die SVP wolle wieder zum alten Recht mit Gefängnisstrafen und Bussen zurückkehren, hiess es. Auch die Landesverweisung von straffälligen Ausländern sei wieder einzuführen.

«Paradies für Ganoven»

Doch nicht nur Politiker, sondern auch Anwälte und Richter kritisieren das System der Tagessätze. Die politisch rechten Staatsanwälte der Kantone Neuenburg, Waadt und Genf unterstützen die Initiative von Moret und Lüscher, die selbst Anwälte sind.

Die FDP erhält auch Unterstützung von FDP-Sicherheitsverantwortlichen aus 13 Kantonen. Wie aus der Sonntagspresse hervorgeht, finden sich unter den Kritikern auch verschiedene Vertreter der Kantonsregierung, die der Sozialdemokratischen Partei (SP) angehören.

Die Geldstrafen hätten keine abschreckende Wirkung, heisst es. Für kleine Delikte sind in der Tat keine Gefängnisstrafen mehr zu fürchten, ausser der Verurteilte bezahlt seine Tagessätze nicht.

Doch im Fall einer Strafe von 45 Tagen zu 1 Franken wird dies kaum der Fall sein. Zudem werden Geldstrafen häufig bedingt ausgesprochen.

Das neue Strafgesetzbuch führt gemäss den Kritikern zu einer explosionsartigen Zunahme der Kriminalität und macht die Schweiz zu einem Paradies für Ganoven jeglicher Couleur.

Es wird gar befürchtet, dass das neue Sanktionsregime zu einer Art Delinquenten-Tourismus führt, da die Taten hier quasi unbestraft bleiben.

Zunahme der Kriminalität?

«Bevor das Strafgesetzbuch erneut revidiert wird, muss abgeklärt werden, ob die Einführung der Geldstrafen tatsächlich zu einer Zunahme der Kriminalität geführt hat», sagt André Kuhn, Professor für Strafrecht und Kriminologie an den Universitäten Lausanne und Neuenburg.

So heisse es etwa, in Genf würden zahlreiche Franzosen Delikte begehen. «Gemäss dem Generalstaatsanwalt hat dieses Phänomen in den letzten Jahren zugenommen», sagt Kuhn. «Ich möchte jedoch wissen, auf was er sich bei dieser Feststellung stützt.»

Ob die Kriminalität tatsächlich zugenommen hat, möchte auch die politische Linke wissen. Am 12. Juni hat der SP-Nationalrat und Anwalt Carlo Sommaruga ein Postulat eingereicht, das einen Bericht über die Auswirkungen des Tagessatzsystems fordert. Dazu soll dieses über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren beobachtet werden.

Idee aus dem Norden

Das Tagessatzsystem wurde in den 1920er-Jahren in Finnland zum ersten Mal angewendet. Darauf wurde es von den übrigen skandinavischen Ländern übernommen. Vor 20 Jahren wurde dieses Sanktionssystem in Deutschland eingeführt. Auch Frankreich kennt heute das System der Tagessätze.

Auf Kuba und in gewissen amerikanischen Staaten hat das System seit langem Tradition.

«Die Idee stammt aus Nordeuropa, das eine eher geringe Kriminalität aufweist», sagt Kuhn. «Dort hat man es geschafft, die Kriminalität mit einem deutlich weniger strengen Sanktionssystem zu kanalisieren als in den südlichen Ländern.»

Nur Anzahl Tage angeben

Wenn das System der Tagesansätze anderswo erfolgreich ist, weshalb sollte es in der Schweiz nicht funktionieren? Vielleicht weil in der Schweiz die jeweiligen Tagessätze bekannt sind.

Dies brachte das Tagessatzsystem auch in Grossbritannien, wo es in den 1970er-Jahren eingeführt worden war, nach weniger als einem Jahr zum Scheitern. Die Engländer bekundeten Mühe damit, dass die Delinquenten mit symbolischen Geldbussen bestraft wurden.

«Man sollte lediglich die Anzahl Tage, nicht aber die jeweiligen Tagessätze angeben», sagt Kuhn. Anders als bei den Tagessätzen würde auf diese Weise das Mass der Schuld ersichtlich. «Der Tagessatz hängt vom Einkommen des Verurteilten ab und ein Franken hat nicht für alle denselben Wert.»

Kuhn ist in Bezug auf das neue Sanktionssystem optimistisch: «Wenn die Kriminalität und die Rückfallquote nicht zunehmen und die Zahl der Gefängnisinsassen zurückgeht, kann man sagen, dass das Tagessatzsystem funktioniert.» Und das sei bisher in allen Ländern der Fall gewesen, wo die Geldstrafen eingeführt worden seien.

swissinfo, Marc-André Miserez
(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser)

Beim System der Tagessätze geht es darum, Gefängnisstrafen für kleine Delikte zu verhindern. Gemäss Artikel 34 des Schweizer Strafgesetzbuches können Verurteilungen zu Gefängnisstrafen von bis zu 360 Tagen in eine Geldstrafe umgewandelt werden.

Das Gericht bestimmt die Höhe des Tagessatzes nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters beim Urteil, namentlich nach Einkommen und Vermögen, Lebensaufwand, allfälligen Familien- und Unterstützungspflichten sowie nach dem Existenzminimum.

Während der maximale Tagessatz höchstens 3000 Franken beträgt, sieht das Gesetz keinen minimalen Satz vor. Der Richter kann diesen theoretisch auf einen Franken festsetzen.

Im Mai 2007 wurde der Immobilienmagnat Bernard Nicod im Kanton Waadt wegen Kokainkonsum bedingt zu 210 Tagen à 2500 Franken verurteilt.

Einen Monat später wurde Christian Constantin, Präsident des FC Sion vom Luzerner Obergericht bedingt zu 35 Tagen à 700 Franken verurteilt, weil er einen Schiedsrichter attackiert hatte.

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