
«Von der Schweiz habe ich mehr erwartet»

Die italienische Fussballerlegende Marco Tardelli zieht eine Euro 08-Zwischenbilanz Er wurde 1982 mit der italienischen Nationalmannschaft Fussballweltmeister. Für das EM-Viertelfinalspiel seines Teams gegen Spanien am Sonntag ist er zuversichtlich.
Der 54-jährige Tardelli arbeitet schon viele Jahre als Trainer. Seit Mai 2008 ist er Stellvertreter von Giovanni Trapattoni als Coach der irischen Nationalmannschaft. Bei der laufenden Europameisterschaft ist er Meinungs-Kommentator beim italienischen TV-Staatssender RAI.
swissinfo: Wie beurteilen Sie die Leistung der Schweizer Nationalmannschaft?
Marco Tardelli: Ich habe mehr erwartet. Die Schweiz verfügt über gute Spieler, die im Ausland engagiert und an Druck gewöhnt sind. Aber die Schweiz hatte wegen des Ausfalls von Alex Frei auch etwas Pech. Es ist der einzige Spieler von sehr grosser Qualität.
Wie erklären Sie sich diese Situation?
M.T.:In der Schweiz wird Fussball nicht als echte Arbeit betrachtet. Man schätzt den Fussball nicht wirklich. Ich spreche aus eigener Erfahrung, da ich ein Jahr lang in der Schweiz gespielt habe. Solange es so bleibt, wird die Schweiz kaum mehr ausrichten können.
Haben Sie organisatorische Mängel feststellen können?
M.T.:Nein, in dieser Hinsicht läuft alles gut. Mehr ist kaum möglich. Die Schweiz ist es gewohnt, als Organisatorin aufzutreten.
Die grossen Fussballveranstaltungen werden zusehends zu VIP-Events. Ein Reporter des Corriere della Sera beklagte jüngst, dass die wirklichen Fans nicht in den Stadien zu sehen sind…
M.T.: Tatsächlich bevölkern bei diesen Ereignissen immer mehr Menschen die Stadien, die man den Rest des Jahres nicht im Stadion sieht. Sie mögen Fussball, weil es ein Business ist. Sie zeigen sich, um – wie im Falle von Politikern – Präsenz zu markieren und auch Stimmen zu sammeln.
Der Kontakt zwischen Spielern und Fans ist nicht mehr wie früher. Fussball ist ein richtiger Beruf geworden. Dabei hat er jedoch ein wenig an Seele verloren.
Fussball ist mittlerweile mit dem Show-Business vergleichbar. Wenn man einen Schauspieler interviewen will, muss man über den Manager gehen. Bei Fussballspielern ist es mittlerweile ähnlich. Die Schuld daran tragen aber nicht die Fussballer, sondern vor allem die Medien.
Kommen wir zu den Teilnehmern der Endrunde Euro08. Welche Mannschaft hat Sie bisher am meisten beeindruckt?
M.T.: Holland hat zusammen mit Spanien das beste Spiel gezeigt. Auch Portugal hat gut gespielt, besteht aber aus zu vielen Einzelgängern. Frankreich hat mich schwer enttäuscht, aber auch die Deutschen haben mich nicht immer überzeugt. Doch sie haben es wieder einmal geschafft, weiter zu kommen.
Die Überraschungself des Turniers?
M.T.: Ich hätte nie erwartet, dass die Türkei in die Viertelfinals vorstösst. Die Tschechen haben hingegen eine grosse Chance vertan.
Russland hat mich beeindruckt – abgesehen vom ersten Spiel. Doch im zweiten und dritten Gruppenspiel zeigte sich die Arbeit von Guus Hiddink. Beim Spiel gegen Schweden war Arshavin wieder dabei. Er ist ein Ausnahmetalent. Russland könnte zur wahren Überraschungsmannschaft des Turniers werden.
Und Italien? Im Viertelfinal vom Sonntag treffen die Azzurri auf Spanien. Wie wird das Spiel ausgehen?
M.T.: Spanien hat Angst vor Italien, denn oft hatte die Mannschaft mit Schwierigkeiten im Spiel gegen unser Team zu kämpfen. Die Spanier sind häufig zum Turnierbeginn in Höchstform, lassen dann aber nach.
Die Mannschaft von Aragones verfügt über ein gutes Mittelfeld und einen hervorragenden Sturm. Doch die Abwehr ist die grosse Unbekannte. Unsere Mannschaft steht hinten besser.
Dafür haben die Italiener im Sturm ihre Schwierigkeiten. Die bisherigen drei Tore fielen nie in einer dynamischen Angriffssituation…
M.T.: Das ist kein wirkliches Problem. Und eigentlich existiert das Problem gar nicht, denn das Tor gegen Rumänien war regulär. Toni hatte zudem einige Chancen und er hat die Verteidigung des Gegners stets gepiesackt.
Trainer Roberto Donadoni wurde nach den ersten beiden Spielen mit Kritik überhäuft. Wie beurteilen Sie seine Leistung?
M.T.: Diese Art von Kritik gehört irgendwie zum Fussballspiel. Und wir Italiener neigen bekanntlich zu polemischen Auseinandersetzungen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass Donadoni gute Arbeit leistet.
Die Italiener sind im Spiel gegen Frankreich während 90 Minuten von der Depression in eine Euphorie aufgestiegen. Wie sind Ihre Gefühle?
M.T.: Man hat mit der Euphorie übertrieben! Wir haben gut gespielt, aber gegen einen schwachen Gegner, der mit 10 Spielern auf dem Feld stand.
Psychologisch ist der Sieg und das Erreichen des Viertelfinals sehr wichtig gewesen. Wenn die Angst überwunden ist, fühlt man sich auch physisch besser.
Das Problem ist, dass beim nächsten Spiel Gattuso und Pirlo nicht dabei sein werden. Cannavaro fehlt sowieso schon. In der Verteidigung haben wir einige Probleme, auch wenn sie gegen Frankreich gut gespielt hat.
swissinfo, Daniele Mariani
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Marco Tardelli, geboren am 24. September 1954, begann seine Berufsfussballer-Karriere 1972 bei Pisa in der Serie C.
Nach einer Saison bei Como in der Serie B (1974-75) ging er zu Juventus Turin. Für Juve bestritt Tardelli 259 Spiele und gewann mit den «Bianconeri» fünf Meistertitel, zwei Cupsiege (Coppa Italia), einen Cup der Landesmeister (heute Champions League), einen Cup der Cupsieger sowie einen UEFA-Cup.
Von 1985 bis 1987 spielte er bei Internazionale Mailand. Tardelli beendete seine Karriere als Fussballprofi in der Schweiz beim FC St. Gallen, wo er eine Saison spielte (1987-88).
Mit der italienischen Nationalmannschaft bestritt er die Weltmeisterschaften 1978 und 1982 sowie eine Europameisterschaft (1980). Im WM-Final 1982 in Spanien schoss er beim 3:1-Sieg Italiens gegen Deutschland das 2:0.

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