Asbest-Tragödie gelangt vor Gericht
Ab Montag wird in Turin entschieden, ob es zu einem Prozess gegen den Schweizer Unternehmer Stephan Schmidheiny und den Belgier Jean Louis de Cartier kommt.
Die beiden Ex-Besitzer von vier Asbest-Fabriken in Italien könnten wegen «Unterlassung von Sicherheitsmassnahmen am Arbeitsplatz und vorsätzlicher Verursachung eines schweren Unfalls» angeklagt werden. swissinfo hat sich an einem ehemaligen Fabrikstandort umgesehen.
Piero Ferraris hat 21 Jahre in Asbest-Fabriken gearbeitet, zuerst in Niederurnen (Kanton Glarus), dann in Casale Monferrato (Piemont). Seine Augen glänzen.
«Seit einigen Monaten geht es mir schlecht, und in wenigen Tagen werde ich definitiv wissen, ob ich einen Tumor habe», sagt er. Es besteht Verdacht auf Pleuramesothelium, Brustfellkrebs.
Leben in Angst
In Casale Monferrato lebt man in ständiger Angst. Der Asbest treibt nach wie vor sein Unwesen, auch viele Jahre nach Einstellung der Produktion.
Schon 1646 Personen sind gestorben, darunter nicht nur ehemalige Arbeiter der Fabrik Eternit S.p.A., Genua. Jedes Jahr gibt es 40 neue Krebsfälle. Und die Zahl soll laut Experten noch bis 2020 ansteigen.
Eine tragische Geschichte
Sollte es zum Prozess kommen, riskieren die beiden ehemaligen Besitzer von vier Werken der Eternit S.p.A., Genua, hohe Strafen. Sie sollen zu wenig unternommen haben, um die Angestellten vor dem schädlichen Asbeststaub zu schützen.
In Folge mangelnder Vorkehrungen hätten sie in 2889 Fällen eine Krankheit ehemaliger Mitarbeiter zu verantworten, in vielen Fällen auch den Tod. Ganz unabhängig vom Ausgang der Verhandlung, die am 6. April in Turin beginnt, handelt es sich bei den Asbestopfern um äusserst tragische Schicksale.
Schmidheiny bietet Entschädigung an
Eine Richterin in Turin muss entscheiden, ob die Voraussetzungen für einen Mega-Prozess gegeben sind. Im Vorfeld der Verhandlung hat Stephan Schmidheiny mit einer Entschädigungsofferte für Aufsehen gesorgt.
Der Schweizer Unternehmer hat angeboten, für jedes Asbestopfer eine Entschädigung von maximal 60’000 Euro zu bezahlen. Betroffen wären Arbeiter, welche zwischen 1973 und 1986 in den italienischen Eternit-Werken arbeiteten. Es handelt sich um das Jahr der Übernahme der italienischen Filialen durch die Eternit S.p.A., Genua, sowie um das Jahr des Konkurses.
«Unsere Haltung ist ein Ausdruck von Solidarität – so wie es bereits mit den Asbest-Opfern in anderen Teilen der Welt geschehen ist; aber es ist kein Schuldeingeständnis von Stephan Schmidheiny. Er weist alle Anschuldigungen zurück», sagte Astolfo Di Amato, einer der Anwälte Schmidheinys, am Schweizer Fernsehen.
Die Annahme einer Entschädigung ist allerdings an eine Bedingung geknüpft. Die jeweiligen Personen müssen darauf verzichten, sich in einem allfälligen Prozess als Zivilpartei zu konstituieren.
Laut dem Anwalt der ehemaligen Eternit-Besitzer wird nicht bestritten, dass Asbest zum Tod führen kann. Doch die Verantwortung und Kontrolle für die Sicherheit in den italienischen Werken sei damals in den Händen der lokalen Behörden gelegen.
Eternit habe damals sogar 52 Milliarden Lire in die Sicherheit investiert. Zudem sei es die gängige Auffassung gewesen, dass ein Minimum an Asbest akzeptabel war. Dies gehe auch aus den damals gültigen europäischen Sicherheitsrichtlinien hervor.
Staub mit tödlichen Folgen
Man entdeckte hingegen, dass auch schon eine Mikrofaser im Asbeststaub gravierende Folgen für die Gesundheit haben konnte. «Und hier in Casale gab es Millionen dieser Mikrofasern», sagt Bruno Pesce, Präsident des «Vereins der Familien von Asbestopfern».
Pesce weist darauf hin, dass die Gefährlichkeit von Asbest bereits in den 1970er-Jahren bekannt war. Die Besitzer hätten vollkommen unzureichende Sicherheitsvorkehrungen getroffen. So hätte das Austreten von Asbeststaub aus dem Werksgelände unbedingt verhindert werden müssen.
Das Entschädigungsangebot Schmidheinys überzeugt Pesce nicht: «Er versucht, die Front der Ankläger, Opfervereine und Familien zu spalten. Doch es wird ihm nicht gelingen, da es noch genügend Personen gibt, die sich als Zivilpartei konstituieren wollen.»
Pesce räumt ein, dass die aussergerichtliche Entschädigungsankündigung eine wichtige Neuigkeit war. Seiner Meinung nach kommt dies aber doch einem Schuldeingeständnis gleich.
Ein attraktives Angebot
Viele Asbestopfer oder ihre Familien sind indes bereit, auf das Angebot einzugehen. Der örtliche Gewerkschaftsbund ist sogar überzeugt, dass die Mehrheit das Angebot annehmen wird und somit nicht am Prozess teilnimmt.
«Die Zeiten der italienischen Justiz sind einfach zu lange», meint Silvana Bertellotti, die ihre Mutter und einen Bruder durch Krebs verloren hat, obwohl sie nie einen Fuss in die Eternit-Fabrik gesetzt hatten.
«Wir sterben doch wie die Fliegen», sagt die Witwe von Guido Verruca, einem ehemaligen Eternit-Arbeiter. Sie hat sich noch nicht entschieden, ob sie das Angebot annehmen will.
Die junge Piera Canotta wird das Angebot hingegen ausschlagen. Sie könne zwar verstehen, dass viele Leute einen Schlussstrich unter diese Geschichte setzen wollen und Angst vor der langatmigen Justiz hätten.
«Doch dann habe ich an meinen Vater gedacht, der vor sieben Jahren an Krebs gestorben ist: Dieser Tod lässt sich nicht bezahlen.»
Geteilte Front der Opferfamilien
Für den Gewerkschafter Vincenzo Bonetto dient das Angebot Schmidheinys vor allem dazu, die Anklage zu schwächen. «Denn in diesem Verfahren zählen auch die Zahlen», sagt er.
Die ganze Welt schaue auf diesen Prozess, da künftig jedes Jahr Tausende von Personen an den Folgen von Asbest sterben werden.
Der Gewerkschafter hält die «Schweizer Solidarität» zudem für äusserst verspätet, da das Angebot erst kurz vor dem möglichen Prozessbeginn gekommen sei. Dadurch werde die Offerte unglaubwürdig.
swissinfo, Aldo Sofia, Casale Monferrato
(Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Die Ermittlungsunterlagen umfassen über 200’000 Dokumente.
Darin wird das Schicksal von Tausenden von Personen beschrieben, welche unter der Krebskrankheit Pleuramesothelium leiden.
1378 Arbeiter sind allein in Casale verstorben, 118 in Cavagnolo, 2 in Rubier und 384 in Bagnoli.
Fast 700 Arbeiter leiden momentan unter dieser schweren Krankheit.
Auch Familienangehörige oder Personen, die in der Nähe der Fabriken wohnten und mit Asbestfasern in Kontakt kamen, gehören zu den Betroffenen.
Rund 1200 Personen haben am Montag den Prozessauftakt in Turin in drei Gerichtssälen beobachtet.
Hunderte von Ex-Eternit-Mitarbeitenden aus Italien, aber auch aus der Schweiz, Frankreich und Belgien, sowie Gewerkschafter hatten sich bereits vor Beginn vor dem Justizpalast in Turin versammelt.
Einige rollten Spruchbänder mit dem Slogan «Eternit – Schluss mit dem Massaker!» aus.
Wann das Gericht über die Zulassung der Anklage entscheidet, war zunächst nicht bekannt.
Die Staatsanwaltschaft von Turin ermittelt wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Schutzvorschriften gegen Berufskrankheiten. Die Untersuchung wurde im Oktober 2008 abgeschlossen.
Es geht um Todesfälle, die in Folge von Kontakt mit Asbestfasern in vier Fabriken der Eternit S.p.A., Genua, erfolgten. In Cavagnolo (Turin), Casale Monferrato (Alessandria), Bagnoli (Neapel), Rubiera (Reggio Emilia).
Staatsanwalt Raffaele Guariniello klagt die beiden ehemaligen Mehrheitsaktionäre, den Schweizer Stephan Schmidheiny und den Belgier Jean Louis Marie Ghislanie De Cartier, an, von den Asbestgefahren gewusst, aber nicht die nötigen Schutzvorkehrungen getroffen zu haben.
Staatsanwalt Raffaele Guariniello ist überzeugt, dass die von Schmidheiny angebotenen Entschädigungszahlungen die Anklage der Staatsanwaltschaft nicht schmälern. Guariniello hat schon in anderen Industrieprozessen, beispielsweise gegen Thyssen Krupp, die Anklage vertreten.
Unter Schmidheinys Anwälten wird die These vertreten, dass die Asbestfrage ein «soziales Problem» ist und nicht im Sinne einer «individuellen Verantwortung» gelöst werden kann.
Guariniello will sich nicht auf diese Frage einlassen: «Das werden wir im Prozess sehen.» Er verweist indes auf andere Gerichtsurteile, welche die Verantwortung von Unternehmensbesitzern in Bezug auf mangelnde Prävention bereits anerkannt haben.
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