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Dem IKRK geht die Arbeit nicht aus

Keystone

Vor 150 Jahren markierte die Schlacht von Solferino die Geburtsstunde der Rotkreuz-Bewegung. swissinfo.ch sprach mit dem IKRK-Präsidenten Jakob Kellenberger über künftige Herausforderungen und bisher erreichte Fortschritte.

swissinfo.ch: Was sind in den nächsten Jahren die grössten Herausforderungen für das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK)?

Jakob Kellenberger: Eine der grossen Herausforderungen ist es, den Zugang zu den Menschen in Gewaltkonflikten zu verbessern.

Auch müssen wir weiterhin hartnäckig für eine bessere Einhaltung der Internationalen Menschenrechte kämpfen. Wenn man sich dezidiert dafür einsetzt, kann man Fortschritte verzeichnen.

swissinfo.ch: Sri Lanka, Gaza, Afghanistan, Irak – die Liste der Konflikte mit Menschenrechts-Verletzungen ist lang. Braucht es eine Überprüfung der Genfer Konventionen und der damit verbundenen gesetzlichen Instrumente?

J.K.: Uns geht es in erster Linie darum, dass die bestehenden Vereinbarungen eingehalten werden. Diese sind jedoch nie auf dem neuesten Stand, sie sind nie perfekt.

Verschiedene Aspekte der Menschenrechte müssen besser definiert werden. So etwa der Begriff der direkten Teilnahme an Kampfhandlungen, der zentral geworden ist. Um Zivilpersonen, die nicht direkt in die Kampfhandlungen involviert sind, zu verschonen, muss dieser klarer umschrieben werden.

In den letzten zwei Jahren haben wir zudem sehr sorgfältig untersucht, inwiefern bei den bestehenden Vereinbarungen Anpassungen notwendig sind, insbesondere was die Internationalen Menschenrechte in nicht internationalen bewaffneten Konflikten betrifft. In diesem Bereich sind die Regelungen eher mangelhaft.

swissinfo.ch: Glauben Sie, dass das US-Gefangenenlager Guantanamo geschlossen wird und es mit den zweifelhaften Haftbedingungen und Verhörmethoden vollends vorbei ist?

J.K.: Präsident Barack Obama unterzeichnete am 22. Januar 2009 Verfügungen für die Schaffung von Expertengruppen für Guantanamo, die Haftbedingungen und die Verhörmethoden.

Ich war im April in Washington, um die Mitglieder der drei Expertengruppen sowie verschiedene Vertreter der US-Administration zu treffen.

Es gilt nun, die Ergebnisse dieser drei Expertengruppen abzuwarten. Doch ich denke, es ist ein sehr gutes Zeichen für das IKRK, so direkt an dieser Untersuchung beteiligt zu sein. So können wir unseren Input miteinbringen.

Die neue US-Administration lehnt jegliche Form von Folter klar ab und kündigte an, Guantanamo innerhalb eines Jahres zu schliessen. Die Genfer Konventionen wurden in keiner Weise in Frage gestellt. Das sind gute Nachrichten.

swissinfo.ch: Das Schweizerische Rote Kreuz verzeichnet einen Rückgang der Freiwilligenarbeit. Inwiefern beeinträchtigt dies die zukünftige Entwicklung des IKRK?

J.K.: Ich glaube nicht, dass der Rückgang der Freiwilligenarbeit für die Rotkreuz- und Halbmondbewegung als Ganzes problematisch ist. In Afrika beispielsweise, wo es zahlreiche humanitäre Probleme und Konflikte gibt, ist die Anzahl ehrenamtlicher Helfer nicht im Abnehmen begriffen.

So viel ich weiss, handelt es sich beim rückläufigen Interesse für humanitäre Freiwilligenarbeit vielmehr um ein westliches Phänomen. Interessanterweise ist jedoch in den anderen Bereichen der Freiwilligenarbeit kein Rückgang zu verzeichnen.

swissinfo.ch: Wie entscheiden Sie, wann Menschenrechtsverletzungen öffentlich anzuprangern sind?

J.K.: Das ist eine der grössten Herausforderungen – eine der schwierigsten in meinem Job. Ich frage mich immer wieder, ob es der richtige Moment ist und wäge die Vor- und Nachteile ab. Es ist ein Balanceakt.

Es bestehen sehr klare Vorgaben, wann Menschenrechtsverletzungen öffentlich verurteilt werden dürfen.

Erstens muss es sich um systematische und gravierende Verletzungen der Internationalen Menschenrechte handeln. Zweitens sind wiederholte bilaterale Vermittlungsversuche mit den Verantwortlichen eines Konflikts praktisch ergebnislos verlaufen. Und drittens müssen wir selbst Zeugen der Menschenrechtsverletzungen sein oder über Informationen von vertrauenswürdigen Quellen verfügen. Zudem müssen wir überzeugt davon sein, dass die öffentliche Anprangerung der Menschenrechtsverletzung das Beste ist, was wir für die betroffenen Menschen tun können.

Vertraulichkeit ist ein extrem wichtiges Instrument für das IKRK, um Zugang zu Kriegsopfern zu erhalten – aber sie ist nicht bedingungslos.

swissinfo.ch: Was waren in den neun Jahren ihrer Tätigkeit als IKRK-Präsident die grössten Erfolge?

J.K.: Die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaftensind sind mit den Schwierigkeiten in den jeweiligen Ländern konfrontiert, doch es besteht Potenzial zur Zusammenarbeit und damit zur grösseren Einflussnahme.

Als ich kürzlich in Pakistan war, konnte ich mich selbst von der fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem pakistanische Roten Halbmond überzeugen.

Das IKRK verfügt über eine grosse operative Stärke und kann in akuten Krisensituationen – wie etwa kürzlich in Libanon, Georgien und Gaza – schnell handeln.

Es gab auch positive Entwicklungen in Bezug auf die Internationalen Menschenrechte. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie die Situation ohne den kontinuierlichen Kampf unserer Mitarbeiter für eine bessere Einhaltung der Menschenrechte aussehen würde.

Wir haben Tendenz über Menschenrechtsverletzungen zu sprechen, ohne an die Fälle zu denken, wo dank dem IKRK ebensolche Verletzungen verhindert werden konnten.

Ich denke, vor zwei oder drei Jahren hätte noch kaum jemand gedacht, dass fast 100 Länder eine Konvention unterzeichnen, die den Einsatz von Streubomben verbietet.

Simon Bradley, Genf, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Corinne Buchser)

Das Interntaionale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das 1863 in Genf gegründet wurde, ist in 80 Ländern tätig.

Es hilft Opfern von Krieg und interner Gewalt und agiert als neutraler Vermittler in Konflikt-Fällen. Das IKRK-Hauptquartier ist in Genf.

Zudem gibt es 186 nationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Sie bilden das Rückgrat der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung.

Jede nationale Gesellschaft beschäftigt Freiwillige und Angestellte.

Die nationalen Gesellschaften sind in der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften zusammengefasst, welche 1919 in Paris gegründet wurde. Die Föderation hat ihren Hauptsitz ebenfalls in Genf und beschäftigt weltweit 1300 Personen.

Rund um den Globus sind etwa 100 Millionen Mitarbeiter, Mitglieder und Freiwillige für das Rote Kreuz und den Roten Halbmond im Einsatz

Der 1944 in Heiden im Kanton Appenzell-Ausserrhoden geborene Jakob Kellenberger war während 24 Jahren als Schweizer Diplomat für das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA)tätig.

Er arbeitete für die Schweizer Botschaft in Madrid, für die Schweizerische Mission bei den Europäischen Gemeinschaften (EG) in Brüssel und die Schweizer Botschaft in London.

Von 1984 bis 1992 leitete er das Integrationsbüro der Schweiz.

1992 wurde er zum Staatssekretär und Chef der politischen Direktion des EDA befördert. Kellenberger stand zudem der Schweizer Delegation bei den bilateralen Verhandlungen mit der EU vor.

Seit dem Jahr 2000 ist er Präsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK).

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