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Jahrestag für einen historischen Streik

Keystone

Vor einem Jahr hatten die Arbeiter im SBB-Industriewerk Bellinzona ihren 33-tägigen Streik begonnen. Die Arbeitsniederlegung sorgte landesweit für Aufsehen und führte fast zu einer institutionellen Krise. Die SBB haben ihre Lehren gezogen.

An Wochenende flatterten nochmals die Gewerkschaftsfahnen rund um das Industriewerk Bellinzona (IWB), wo Lokomotiven und Güterwagen gewartet werden. Die 400 Arbeiter begingen den Jahrestag ihres Streiks mit einem grossen Fest. Durch die damalige Arbeitsniederlegung konnte die Werksschliessung verhindert werden.

“Wenn wir nicht gestreikt hätten, wären wir heute sicher nicht hier”, sagten die Vertreter des damaligen Streikkomitees. Und Streikführer Gianni Frizzo bilanzierte kurz und knapp: “Der Kampf hat sich gelohnt – wir haben bewiesen, dass die Manager nicht immer Recht haben.”

Am 7. März 2008 hatte Cargo-Chef Nicolas Perrin von den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) vor der Betriebsversammlung die schrittweise Verlagerung des Lok-Unterhalts nach Yverdon im Kanton Waadt bekannt gegeben. Der Wagenunterhalt sollte hingegen in einem Joint-Venture mit Privaten weitergeführt werden.

Tausende auf der Strasse

Dies kam de facto einem Schliessungsentscheid des IWB gleich. Darum stimmten die Arbeiter für einen Streik. Erst am 9. April nahmen sie ihre Arbeit wieder auf, nachdem die SBB ihren Restrukturierungsplan für Bellinzona definitiv zurückgezogen hatte und der Weg für einen Runden Tisch unter alt FDP-Nationalrat Franz Steinegger geebnet war.

Bundesrat und Verkehrsminister Moritz Leuenberger hatte selber für das Zustandekommen des Runden Tisches gesorgt, um “eine institutionelle Krise” abzuwenden, wie er später sagte. Denn aus dem Fall SBB-Cargo-Officine war ein Fall Tessin geworden. Tausende waren auf die Strasse gegangen, um sich mit den streikenden Arbeitern zu solidarisieren.

Der 33-tätige Streik ist inzwischen ein Stück Schweizer Geschichte. Und die Frage, ob heute – ein Jahr später – die Tessiner angesichts der Wirtschaftskrise genauso mobilisiert werden könnten, wird sich nie beantworten lassen.

Dialog und Perspektiven

Tatsache ist: Die Wogen haben sich geglättet. Am Runden Tisch wurden Massnahmen erarbeitet, um die Rentabilität des Werkes zu verbessern und das Überleben zumindest bis Ende 2013 zu sichern. Das Werk wurde organisatorisch der Division Personenverkehr zugeordnet, doch die SBB-Cargo hat ihre Aufträge bis zum genannten Datum zugesichert.

Das Betriebsklima hat sich durch den Streik verändert. “Es gibt heute einen konstruktiven Dialog mit den SBB”, so Frizzo. Das Werk arbeite besser als zuvor. Man liege mehr als 20’000 Arbeitsstunden über dem budgetierten Soll. Im Lokomotivunterhalt habe man inzwischen Aufträge von Dritten – beispielsweise von Bombardier und BLS.

Wie es wirtschaftlich genau um das IW Bellinzona steht, ist indes nicht bekannt. Die SBB wird erst am 2. April im Rahmen der Bilanzmedienkonferenz informieren. “Der Verlust fiel höher aus als die 2,3 Millionen Franken im Jahr 2007”, sagt SBB-Sprecher Roland Binz auf Anfrage.

Von den Ereignissen überrascht

Die SBB wurden laut Binz vor einem Jahr durch die Dynamik der Ereignisse überrascht und waren ungenügend vorbereitet. Man habe daraus die Lehren gezogen: “Die SBB beschloss inzwischen, die Führung des Werkes zu verstärken und gleichzeitig klare Regeln zu erlassen für eine korrekte, frühzeitige Information der Sozialpartner im Vorfeld solcher Massnahmen.”

Tatsächlich wurde der Tessiner Ingenieur Sergio Pedrazzini mittlerweile als fester Werksleiter verpflichtet. Er hat vor einem Monat sein Amt angetreten. Er bezeichnete die Einstellung der Belegschaft nach seinen ersten Erfahrungen als sehr positiv.

Trotz dieser Zuversicht ist die Zukunft des IWB offen. “Es braucht in Bellinzona nach 2010 weitere Ergebnisverbesserungen über die zehn Millionen Franken hinaus.”, so Binz.

Dieser Betrag war als Ziel zur Reduktion des jährlichen Betriebsaufwandes ausgehandelt worden. Das heisst: Die Akte Bellinzona ist noch lange nicht geschlossen.

swissinfo, Gerhard Lob in Bellinzona

Am Runden Tisch haben sich die Sozialpartner des Industriewerks Bellinzona (SBB, Gewerkschaften, Arbeitervertreter) nach Beendigung des Streiks schon fünf Mal getroffen.

Am 13.März findet das sechste Treffen am Runden Tisch statt.

Es gibt noch viele ungelöste Probleme. So pocht das Streikkomitee auf den Ausbau der Infrastruktur und des Kundenakquisitionsbüro. Zudem sei die Anzahl der temporär Angestellten auf über 100 Personen gestiegen. Dies sei eine bedenkliche Entwicklung.

Streiks sind selten in der Schweiz. Gelegentlich kommt es zu kurzen Arbeitsniederlegungen. Wochenlange Streiks wie Anfang 2006 in einem metallverarbeitenden Betrieb im Berner Jura oder im Frühling 2008 in den SBB-Werkstätten von Bellinzona sind die Ausnahme.

Grund: In der Schweiz gibt es eine lange Tradition der friedlichen Beilegung von Arbeitskonflikten. Es gilt das Prinzip des so genannten Arbeitsfriedens. Konkret bedeutet dies, dass Arbeitskonflikte in der Regel am Verhandlungstisch gelöst werden.

Der Grundstein zu diesem so genannten Arbeitsfrieden wurde 1937 gelegt, als sich die Gewerkschaften und der Arbeitgeberverband in der Metallindustrie auf ein Friedensabkommen einigten.

Der Arbeitsfrieden wird von der Schweizer Wirtschaft häufig als Standortvorteil der Schweiz genannt. Der Frieden ist indes brüchig. In den letzten Jahren kam es vermehrt zu Streiks, auch wenn sie nach wie vor selten sind.

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