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Kindertransport – in eine fremde Welt

Kinder im Zug: unterwegs in eine sicherere aber fremde Zukunft. (Foto: SFH) صورة قديمة لإطفال تم نقلهم إلى مكان آمن لكنه غريب عليهم (مصدر الصورة Werner.bros.de)

Der Film dokumentiert die Rettung Tausender von Kindern aus Nazi-Deutschland nach Grossbritannien vor dem Zweiten Weltkrieg. Eine beispiellose Aktion, die lange wenig Beachtung fand.

Der Oscar-gekrönte Dokumentarfilm, den die Schweizerische Flüchtlingshilfe als Premiere vorführte, zeigt auf eindrückliche Weise, wie in der Zeit zwischen der Kristallnacht vom 9. November 1938 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fast 10’000 Kinder von Verfolgten nach England gebracht werden.

Ein letztes Lebewohl

Aufgezeichnet werden die Schicksale von 12 Menschen, heute alle zwischen 60 und 80-jährig, die als Kinder von ihren Eltern aus Nazi-Deutschland in eine fremde Welt geschickt wurden. Die meisten von ihnen sahen ihre Eltern nie wieder, ein Erlebnis, das Spuren hinterlässt.

Wenn man die “Kinder” erzählen hört, merkt man, wie sehr sich ihre traumatischen Erfahrungen von damals in ihre Biografie eingebrannt haben. Die Beschreibungen, die erlebten Gefühle und Ängste wirken so präsent, als lägen sie nicht über 60 Jahre, sondern nur ein paar Tage zurück.

Die Zeitzeugen sprechen zuerst über ihre Kindheit, die Schule, erzählen von der Geborgenheit, die sie zu Hause erlebten. “Ich war ein verwöhntes Kind. Es war in vieler Hinsicht ein idyllisches Leben. Und ich war der Mittelpunkt des Universums”, sagt eines der “Kinder”.

Dann ändern sich die Zeiten: Hitler kommt an die Macht, jüdische Kinder werden aus Schulen, Parks, Schwimmbädern verbannt. “Meine Mutter veranstaltete für mich wie immer ein Geburtstagsfest. Der Tisch war gedeckt, und ich war sehr aufgeregt. Aber niemand kam. Nicht ein einziges Kind kam. Das war der erste fürchterliche Schlag für mich. Ich spürte damals zum ersten Mal, was es heisst, ausgeschlossen zu sein”, erinnert sich eine der Zeitzeugen.

9’354 Schicksale und ebenso viele Geschichten

Aus Nazi-Deutschland gerettet wurde mit dem letzten Kindertransport vor dem Krieg auch Klaus Appel, der heute 76 Jahre alt ist und seit 1952 in Biel lebt. “Wir wurden von einem Engel gerettet, einer Frau, die enorm viele Kinder rettete.”

Dem schweizerisch-britischen Doppelbürger Appel ist es zu verdanken, dass die SFH den Film “Kindertransport” zeigen konnte. Seit Jahren hat er sich bemüht, das Thema der geretteten Kinder publik zu machen.

Klaus Appel kennt zwei der Personen, die im Film zu Wort kommen. Die “Kinder” seien eine Schicksals-Gemeinschaft. “Geteiltes Leid ist halbes Leid. Aber es wühlt einen immer wieder auf. Allein schon der Gedanke. Wenn ich davon spreche, habe ich grosse Mühe, mich zu beherrschen. Das wird man nie los.”

Klaus Appel verlor seine Mutter, als er knapp 5-jährig war. Sein Vater wurde 1938 von der Gestapo verhaftet und kam später in Auschwitz um, ebenso sein damals 17-jährige Bruder, der zu alt für den Kindertransport war. Seine jüngere Schwester wurde wie er nach Grossbritannien gerettet.

“Flüchtling zu sein – ein schreckliches Schicksal”

Klaus Appel sieht im Film nicht nur ein historisches Dokument. Ihm ist der Bezug zur Gegenwart wichtig. Darum geht es ihm. “Noch heute gibt es Tausende von Kindern aus Bosnien, Afghanistan, Ruanda, die ähnliche Schicksale erdulden müssen”, betont Appel gegenüber swissinfo. “Sie brauchen nicht nur zu essen, man muss ihnen mehr geben: ein Heim und Wärme. Ein Kind ist gewöhnt, die Arme der Mutter zu spüren, in einer Familie aufzuwachsen, in einer vertrauten Umgebung.”

Kinder allein auf der Flucht – auch in der Schweiz

Die Menschen hier und anderswo seien heute gefordert zu helfen, vielleicht mehr denn je, erklärt Appel. Ohne fremde Hilfe und Spenden hätte er vielleicht nicht überlebt. Das wolle er den Leuten in der Schweiz mit dem Film bewusst machen.

Der Film “Kindertransport – in eine fremde Welt” sei wichtig, weil er uns helfe, uns in die Lage von Flüchtlingen einzufühlen, erklärt Alberto Achermann, Zentralsekretär der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Jedes Jahr stellten zwischen 1’000 und 2’000 Kinder, die ohne Eltern flüchteten, in der Schweiz ein Asylgesuch. “Kinder allein auf der Flucht gehören zu den traurigsten aller Realitäten. Die Gefühle, die Ängste und Bedrängnisse der Kinder bleiben zeitlos und universell.”

Gaby Ochsenbein

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