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80 Jahre danach: Hiroshima, Genf und ihr Kampf um ein Verbot der Atombombe

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Die einen haben schon, andere wollen auch noch: Die atomare Aufrüstung ging nach dem Kalten Krieg weiter. Illustration: SWI swissinfo.ch / Helen James

Achtzig Jahre nach dem verheerenden Atomangriff auf Hiroshima steigen die weltweiten Ausgaben für Atomwaffen rasant an. Während die Abrüstung stockt, erinnert eine Überlebende die Welt daran, was auf dem Spiel steht.

Hiroshima, 6. August 1945. Die siebenjährige Michiko Kodama steht in der Nähe ihres Schulpults am Fenster des Klassenzimmers. Dann kommt der Blitz – «gelb, orange, silbern» – etwas, das sich nicht beschreiben lässt. Die Fenster zerbersten. Sie wirft sich unter ihr Pult – und verliert das Bewusstsein.

Ihre Schule liegt etwas mehr als vier Kilometer vom Epizentrum der Explosion entfernt; ihr Zuhause noch näher. Als ihr Vater sie durch eine brennende Stadt trägt, kommen sie an verkohlten Körpern vorbei.

«Diese Szene hat sich bis heute in mein Gedächtnis eingebrannt», sagt sie in einem Video-Interview mit Swissinfo. «Die Menschen klammerten sich an unsere Beine und flehten: ’Bitte helft mir, bitte gebt mir etwas Wasser!’»

Ein Erlebnis war besonders traumatisch: Ein Mädchen in ihrem Alter, vermutlich von der Familie getrennt, rannte auf sie zu. Die Hälfte ihres Gesichts und Körpers war verbrannt. Doch sie konnten nichts tun. Kodama drehte sich ab. «Sie war bereits auf den Boden gefallen», sagt sie. «Ich glaube, sie ist gestorben.»

Achtzig Jahre später ist Kodamas Zeugnis eine eindringliche Erinnerung an die Verwüstung, die eine einzige Atomwaffe anrichten kann. Die erste in einem Krieg eingesetzte Atombombe tötete schätzungsweise 135’000 Menschen und zerstörte rund zehn Quadratkilometer der Grossstadt Hiroshima.

Ihre Geschichte ist zugleich eine Warnung an eine zerstrittene Welt, die in ein neues nukleares Wettrüsten eintritt – eines, das laut Expertinnen und Experten in einer Katastrophe enden könnte.

Von den blockierten Abrüstungsgesprächen in Genf bis hin zu steigenden Militärbudgets: Der Trend geht heute in Richtung Wiederbewaffnung.

Die weltweiten Ausgaben für Atomwaffen sind in den letzten fünf Jahren drastisch gestiegen, und seit 1945 kam es häufiger zu Beinahe-Konflikten mit nuklearer Eskalation, als den meisten Menschen bewusst ist.

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«Das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen ist heute so hoch wie noch nie», warnt Melissa Parke, Geschäftsführerin der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), einer in Genf ansässigen Organisation.

Diese wurde 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, für ihre Arbeit am Vertrag über das Verbot von Kernwaffen (TPNW) – dem ersten internationalen Abkommen, das Atomwaffen umfassend verbietet.

Parkes Sorge wird weithin geteilt. Im Januar stellte das Bulletin of the Atomic Scientists die Zeiger der Weltuntergangsuhr um eine weitere Sekunde vor – auf nur noch 89 Sekunden vor Mitternacht. Es war die bislang deutlichste Warnung vor der existenziellen Bedrohung durch gefährliche Technologien.

Anlass dafür waren unter anderem die Befürchtungen, dass sich Russlands Krieg gegen die Ukraine durch Fehleinschätzungen oder Unfälle zu einem nuklearen Konflikt ausweiten könnte.

Und das war noch vor den Kriegshandlungen im Mai zwischen den Atommächten Indien und Pakistan sowie den Angriffen im Juni durch die Atommächte Israel und USA auf den Iran – der seinerseits vermutlich nukleare Fähigkeiten entwickelt, jedoch darauf besteht, dass diese für friedliche Zwecke und nicht für Atomwaffen bestimmt sind.

Héloïse Fayet ist Leiterin des Programms für Abschreckung und Proliferation am Französischen Institut für internationale Beziehungen (IFRI). Was sie besonders beunruhigt, ist «die Rückkehr der Atomwaffen als Instrument der Machtpolitik und Erpressung, verbunden mit dem weltweiten Zerfall der internationalen Ordnung – besonders der Normen und Regelwerke rund um Atomwaffen». Das erhöhe das Risiko von Fehlkommunikation und katastrophalen Fehlern, sagt sie.

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Ein neues Wettrüsten

Seit 2019 haben alle neun Atommächte ihre jährlichen Investitionen in nukleare Rüstung erhöht: USA, Russland, China, Frankreich, Vereinigtes Königreich, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Die USA führen dabei das Feld an, gefolgt von Russland und China.

China hat sein Arsenal besonders stark ausgebaut: Von rund 200 Sprengköpfen Anfang der 2000er-Jahre auf geschätzte 600 im vergangenen Jahr, gemäss Angaben des US-VerteidigungsministeriumsExterner Link.

Es geht davon aus, dass diese Zahl bis 2030 auf über 1000 steigen wird. Damit bliebe Chinas Arsenal aber immer noch nur etwa ein Zehntel so gross wie das der USA oder Russlands.

Zwar bekennt sich Peking offiziell zur Doktrin des «No First Use» – also zum Verzicht auf einen Erstschlag mit Atomwaffen. Doch westliche Analystinnen und Analysten bezweifeln, dass diese Haltung im Fall eines grösseren Konflikts tatsächlich aufrechterhalten würde.

«Dieses wachsende Interesse an Atomwaffen seitens der bestehenden Atommächte inspiriert auch Länder, die selbst keine besitzen», sagt Fayet.

Als Länder, die eine zunehmend positive Haltung gegenüber Atomwaffen entwickeln nennt sie Südkorea, Japan, die Ukraine, die Türkei und Saudi-Arabien. «Sie sehen darin ein nützliches Instrument der Aussen- und Sicherheitspolitik.»

Die Modernisierung der nuklearen Arsenale bringt neue Gefahren mit sich. Viele Atommächte entwickeln derzeit Hyperschallraketen und KI-gestützte Zielsysteme.

Parke zeigt sich besonders besorgt darüber, dass zunehmend KI in die nuklearen Führungs- und Kontrollsysteme eindringt – und dass die Modernisierung diese Systeme noch anfälliger für Cyberangriffe machen könnte.

Die heutigen Sprengköpfe sind kleiner, aber um ein Vielfaches stärker als jene, welche die USA über Hiroshima und – drei Tage später – über Nagasaki abgeworfen haben.

Der US-Atomtest «Castle Bravo» im Jahr 1954 war tausendmal so stark wie die Hiroshima-Bombe – 15 Megatonnen gegenüber 15 Kilotonnen. «Mit den heute existierenden 12’000 Sprengköpfen könnte die Erde zweimal vernichtet werden», sagt Atombombenopfer Kodama.

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SWI swissinfo.ch / Kai Reusser

Verträge in der Krise, Normen auf dem Rückzug

Die Architektur der nuklearen Zurückhaltung, die seit Hiroshima mühsam aufgebaut wurde, gerät zusehends ins Wanken.

Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT – auch bekannt als Atomwaffensperrvertrag), der in den 1960er-Jahren in Genf ausgehandelt wurde, steckt in einer Glaubwürdigkeitskrise. Die letzte Überprüfungskonferenz im Jahr 2022 scheiterte ohne Konsens, und auch für die nächste Runde 2026 sind die Aussichten düster.

Diese Überprüfungskonferenzen, die alle fünf Jahre in New York stattfinden, sollen das Engagement der Vertragsländer stärken und den Fortschritt in den drei Säulen des Vertrags bewerten: Nichtverbreitung, Abrüstung und friedliche Nutzung der Kernenergie.

«Wir erleben einen nahezu vollständigen Zusammenbruch der Rüstungskontrollverträge und ein neues atomares Wettrüsten», sagt Parke. «Das ist sehr ernst. Jetzt wäre der Moment, in dem die Weltpolitiker miteinander reden sollten, um das Misstrauen abzubauen…und zum ersten Mal seit Langem ernsthaft über Abrüstung zu sprechen.»

Genf, das anlässlich des 80. Jahrestags von Hiroshima und Nagasaki mehrere Veranstaltungen ausrichtet, ist seit jeher ein bevorzugter Ort für Länder, die sich mit Nuklearfragen befassen.

Dies nicht zuletzt wegen der Schweizer Neutralität und der Rolle der Stadt als Sitz wichtiger UNO-Organisationen, darunter das United Nations Institute for Disarmament ResearchExterner Link.

Der Atomunfall im AKW Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion (im Gebiet der heutigen Ukraine) im Jahr 1986 löste in der Schweiz starke Anti-Atomkraft-Bewegungen aus, welche die öffentliche Meinung und die langfristige Energiepolitik massgeblich beeinflussten.

In der Folgezeit wurde Genf zu einem wichtigen Zentrum für die internationale Koordination in den Bereichen nukleare Sicherheit und Katastrophenhilfe.

Die Stadt spielt eine symbolisch zentrale Rolle in der nuklearen Diplomatie und dient als vertrauenswürdiger Ort für geheime Verhandlungen.

Ein bedeutendes Beispiel ist das Iran-Atomabkommen von 2015. Es verpflichtete den Iran dazu, sein Atomprogramm erheblich einzuschränken, im Gegenzug zur Aufhebung internationaler Sanktionen.

Genf ist auch Sitz des Büros der Vereinten Nationen für Abrüstungsfragen. Doch dieses multilaterale Verhandlungsforum, das sich dreimal jährlich trifft, hat seit Jahrzehnten keinen neuen Vertrag mehr hervorgebracht.

Das letzte bedeutende Abkommen – die Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty – wurde 1996 unterzeichnet, ist aber nie in Kraft getreten, da wichtige Staaten wie die USA, China und Indien den Vertrag nie ratifiziert haben und Russland ihn 2023 formell wieder ausser Kraft gesetzt hat.

Der Vertrag über das Verbot von Atomwaffen (TPNW), der 2021 in Kraft trat, wird weiterhin von allen Atommächten ignoriert. Auch die Schweiz hat es bislang abgelehnt, ihn zu unterzeichnen – trotz ihres humanitären Anspruchs.

In seiner jüngsten Bewertung vom März 2024 bekräftigte der Bundesrat, das Schweizer Engagement für nukleare Zurückhaltung lasse sich am besten im Rahmen des bestehenden Nichtverbreitungspakts verfolgen, da dieser alle Atommächte einbeziehe.

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Konfliktzonen erhöhen das nukleare Risiko

Die Welt stand bereits mehrfach am Rand einer nuklearen Katastrophe – häufiger, als den meisten bewusst ist: von der Kuba-Krise 1962 bis hin zu Fehlalarmen durch Radarsysteme.

Dass es bislang nicht zum Ernstfall kam, sei «reines Glück gewesen», sagt Parke. Sie schliesst sich damit Aussagen an von Personen wie UNO-Generalsekretär António Guterres und Gareth Evans, früherer Ko-Vorsitzender der Internationalen Kommission für nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung.

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Die meisten «Beinahe-Katastrophen» betrafen die USA und die ehemalige Sowjetunion, die während des Kalten Kriegs riesige Atomwaffenarsenale aufbauten – mit jeweils zehntausenden Sprengköpfen.

Auch heute noch haben die USA und Russland mit jeweils über 5000 Sprengköpfen etwa 90% der weltweiten Bestände in ihren Händen.

Die gefährlichsten geopolitischen Konflikte unserer Zeit betreffen Staaten, die Atomwaffen besitzen – oder kurz davorstehen, solche zu erwerben.

«Wir haben derzeit grosse Konflikte, in die atomar bewaffnete Staaten verwickelt sind, nukleare Drohungen werden ausgesprochen, und die nukleare Rhetorik nimmt zu – selbst von höchsten politischen Ämtern», sagt Parke.

«Atomwaffen werden von Staaten, die sie besitzen, als Mittel benutzt, um andere zu bedrohen – als nukleare Tyrannen –, und um sich so zu verhalten, als müssten sie sich für nichts verantworten.» Die jüngsten Angriffe auf den Iran durch die USA und Israel verdeutlichen laut Parke die Doppelmoral der internationalen Nuklearpolitik.

Hoffnung schöpft sie dennoch aus der wachsenden Unterstützung für den TPNW-Vertrag, der kurz davorsteht, eine Mehrheit bei den Vereinten Nationen zu erreichen: Fast 100 Länder haben ihn bereits unterzeichnet oder ratifiziert. Weitere Unterschriften werden dieses Jahr erwartet.

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Nichts aus der Geschichte gelernt

Für Überlebende wie Michiko Kodama ist die nukleare Bedrohung schmerzhaft real und allgegenwärtig. Sie trägt ein erschütterndes Erbe mit sich, das sie aus Pflichtgefühl und Sorge antreibt, ihre Stimme zu erheben. Weil sie befürchtet, dass die Welt die Schrecken von Hiroshima vergisst.

Diese Sorge ist nachvollziehbar. Im Jahr 2018 traf Kodama mit Diplomatinnen und Diplomaten aus fünf Atomwaffenstaaten zusammen und forderte sie auf, ihre Abrüstungsverpflichtungen im Rahmen des Nichtverbreitungsvertrags (NPT) zu erfüllen.

Als sie jedoch 2024 nach Genf zurückkehrte – mitten im anhaltenden Krieg in der Ukraine –, war niemand aus jenen Ländern bereit, sie zu empfangen. Nur Delegierte aus nicht-nuklearen Staaten nahmen sich Zeit für sie.

Die Bilder aus der Ukraine – besonders von Kindern, die im Krieg ums Leben kamen und in Leichensäcke gelegt wurden – seien für sie besonders schwer zu ertragen.

«In Hiroshima hatten wir damals nicht einmal Plastiksäcke», erinnert sie sich. «Verbrannte Körper ohne Hände oder Füsse, nicht erkennbar als Mann oder Frau, wurden auf Karren geworfen und wie Müll behandelt. Sie hatten jede menschliche Würde verloren.»

Kodama zeigt sich auch enttäuscht über die Haltung der japanischen Regierung. Obwohl Japan das einzige Land ist, das je von einem Atomangriff betroffen war, hat es den Atomwaffenverbotsvertrag TPNW nicht unterzeichnet.

Der Vertrag trat 2021 in Kraft – im selben Jahr, in dem Kodamas jüngerer Bruder starb. Er war zum Zeitpunkt des Atombombenabwurfs fünf Jahre alt und litt an mehreren, durch Strahlung verursachten Krebserkrankungen.

«Wir Hibakusha leben noch», sagt sie und verwendet dabei den japanischen Begriff für Überlebende der beiden Atombombenabwürfe vom 6. und 9. August 1945. «Wir sind wütend. Ich hoffe auf eine Welt ohne Atomwaffen.»

Mitarbeit: Akiko Uehara. Editiert von Nerys Avery/vm, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Dominique Soguel

Was bringen Atomabkommen angesichts der jüngsten Ereignisse auf der Welt?

Russland, Ukraine, Nordkorea, Israel, Iran. Was bringen Atomabkommen, wenn sie missachtet werden?

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