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Schwarzer Sonntag für Regierung und Parlament

Sämtliche Kantone haben die drei Vorlagen wuchtig abgelehnt. Keystone

Die Schweizerinnen und Schweizer haben alle drei eidgenössischen Vorlagen - Steuerpaket, AHV-Revision und Mehrwertsteuer-Erhöhung - wuchtig abgelehnt.

Der Bundesrat musste damit schon zum zweiten Mal in diesem Jahr eine flächendeckende Niederlage einstecken.

Der Bundesrat zeigte sich nach dem dreifachen Nein vom Wochenende nicht alarmiert. Bei der komplexen 11. AHV-Revision hätten die Stimmenden aus Unsicherheit vorsorglich ein Nein in die Urne geworfen, sagte Sozialminister Pascal Couchepin. Im Steuerrecht bleibe Handlungsbedarf, sagte Finanzminister Hans Rudolf Merz.

An diesem Abstimmungs-Wochende habe niemand gesiegt, sagte Couchepin, weder Bundesrat, Parlament, noch die Rechte oder die Linke. Im Zweifelsfall sagten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Nein. Zudem hätten sie die Dringlichkeit der 11. AHV-Revision angesichts der noch guten Zahlen des Sozialwerks nicht eingesehen.

Volk will den Sozialstaat nicht zurückfahren

Der Abstimmungs-Sonntag endete für Bundesrat und Parlament mit einer beispiellosen Niederlage: Quer durch die Schweiz sagten alle Kantone zu sämtlichen drei Vorlagen Nein.

Rund zwei Drittel des Stimmvolkes lehnten das Steuerpaket, die 11. AHV-Revision und die Mehrwertsteuervorlage ab. Die Stimmbeteiligung war mit 50,3% überdurchschnittlich hoch.

Mit den höchsten Nein-Stimmen-Anteilen wurden die 11. AHV-Revision und das Steuerpaket in der Romandie abgelehnt. Bei der Mehrwertsteuer gab es weniger ausgeprägte regionale Unterschiede.

Der Versuch der rechtsbürgerlichen Kräfte, den Sozialstaat zurückzufahren, ist nach Einschätzung des Politologen Werner Seitz mit der Abstimmung vom Wochenende gescheitert. In diesem Sinne bedeute der Urnengang sicher einen Richtungsentscheid.

Niederlage für neuen Bundesrat

In einem polarisierten Umfeld sei ein klar rechtsbürgerlicher Kurs offensichtlich nicht mehrheitsfähig, erklärte Seitz vom Bundesamt für Statistik. Für Seitz war das dreifache Nein auch ein Votum gegen den neuen, “nach rechts gerückten” Bundesrat.

Wurden Behörden-Vorlagen bisher in eidgenössischen Abstimmungen meist angenommen, so musste die Regierung dieses Jahr schon zum zweiten Mal eine flächendeckende Niederlage einstecken.

Zwar stammten die drei Vorlagen aus der früheren Legislatur. Aber die beiden neuen der politischen Rechten zugeordnete Exponenten des Bundesrates – Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz – setzten sich besonders dafür ein. In diesem Sinne könne man von einer Niederlage des neuen Bundesrates sprechen, sagte Seitz.

Zum ersten Mal eine AHV-Revision abgelehnt

Die 11. AHV-Revision ist die erste, die vom Volk abgelehnt wurde. Die beiden letzten Revisionen waren in der Volksabstimmung klar angenommen worden. Über die vorangegangenen acht Revisionen (von 1951 bis 1973) wurde nicht abgestimmt.

Die nun abgelehnte Gesetzesrevision sah verschiedene Massnahmen vor, mit denen die AHV jährlich um 925 Mio. Franken entlastet werden sollte. Rund die Hälfte dieser Einsparungen sollte durch die Anpassung des Rentenalters der Frauen von heute 64 an jenes der Männer (65) erreicht werden.

Weitere Massnahmen: Witwen- und Witwerrenten sollten schrittweise von 80 auf 60% einer Altersrente gesenkt werden, die Waisenrenten wären erhöht worden. Zusätzlich war geplant, die AHV-Renten nicht mehr alle zwei, sondern nur noch alle drei Jahre der Teuerung anzupassen.

Überladenes, kompliziertes Steuerpaket

“Besonders beim Steuerpaket hatten wir es mit einer sehr komplizierten Vorlage zu tun”, sagte Emanuel von Erlach, Politologe an der Universität Bern im Gespräch mit swissinfo. “Es ist klar, die Politik kann dem Stimmbürger nicht mehr länger solche Pakete verkaufen.”

Aber auch inhaltlich sei die Steuervorlage problematisch gewesen, so Werner Seitz. Im Verlauf der parlamentarischen Debatte hatte sich eine klare rechtsbürgerliche Linie durchgesetzt – in Richtung weniger Staat und Umverteilung. Gegen diesen rechtsbürgerlichen Kurs habe es ein klares Nein gegeben.

Für Seitz zeigte sich eine ähnliche Entwicklung wie beim Avanti- Gegenvorschlag, der im Februar zur Abstimmung gelangte: Auch dort seien die nachträglichen Korrekturen des Parlaments (Stichwort: zweite Gotthard-Röhre) ziemlich einseitig gewesen. Sie brachten die Vorlage zu Fall. “Es bekommt einer Vorlage nicht, wenn das Parlament sie zu einseitg abändert”, so Seitz.

Das Steuerpaket sollte Familien und Verheiratete finanziell entlasten. Ein Systemwechsel bei der Besteuerung des Wohneigentums, die Abschaffung des Eigenmietwertes, sollte steuerliche Vereinfachungen und gezielte Entlastungen in der Wohneigentums-Förderung bringen.

Auch Erhöhung der Mehrwertsteuer klar abgelehnt

Am wenigsten umstritten war im Vorfeld der Abstimmung die Vorlage, die durch eine Anhebung der Mehrwertsteuer die Finanzierung von AHV und IV sichern wollte.

Konkret sollte die Mehrwertsteuer für die IV ab 2005 um 0,8% auf 8,4% angehoben werden. Für die AHV sollte die Massnahme (plus 1,0%) frühestens 2009 – und nur bei Bedarf – greifen.

Weil die Massnahme für die AHV eine Steuer auf Vorrat sei, hatten sich rechtsbürgerliche Parteien gegen die Vorlage ausgesprochen. Dass die IV Geld nötig hat, ist jedoch unbestritten.

Weil aber auch diese Vorlage als Paket geschnürt wurde, konnten sich Volk und Stände nicht einzeln zu den beiden Punkten äussern. Eine Tatsache, die nun der Anhebung der Mehrwertsteuer den Kopf kostete.

swissinfo und Agenturen

11. AHV-Revision: 32,1% Ja, 67,9% Nein
Anhebung MWSt: 31,4% Ja, 68,6% Nein
Steuerpaket: 34,1% Ja, 65,9% Nein
Stimmbeteiligung: 50,3%

Die Schweizer Stimmberechtigten haben am Wochenende die zwei Vorlagen betreffend Sozialversicherungen und das Steuerpaket mit jeweils komfortablen 2/3-Mehrheiten abgelehnt.

Die 11. AHV-Revision sah vor, bei der Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung jährlich 925 Mio. Fr. einzusparen. Dies hauptsächlich durch die Angleichung des Rentenalters der Frauen von heute 64 an jenes der Männer (65).

Die Anhebung der Mehrwertsteuer zu Gunsten von AHV und IV hätte bezweckt, die beiden Sozialwerke mittelfristig auf eine solide finanzielle Basis zu stellen.

Das Steuerpaket bestand aus drei Teilen: Erstens sollten Familien und Ehepaare entlastet werden. Der Eigenmietwert für Wohneigentum wäre abgeschafft worden. Und schliesslich sollte die Revision der Umsatzabgabe die Rahmenbedingungen für den Finanzplatz Schweiz verbessern.

In einem ersten Schritt will der Arbeitgeberverband das Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 Jahre erhöhen.

Ab 2013 soll für alle Rentenalter 66 gelten.

Im vergangenen Mai hat das Schweizer Stimmvolk das in der 11. AHV-Revision vorgesehene Rentenalter 65 für die Frauen abgelehnt.

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