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Geflohen nach dem UdSSR-Einmarsch: Schweiz-Ungar:innen blicken zurück – und auf Viktor Orbáns Ungarn

Vince Gösi
Jedes Mal, wenn Vince Gösi Ungarn besucht, geht er auf den Platz vor dem Parlament, wo er 1956 protestiert hat. Kira Kynd

Einst nahm die Schweiz 10'000 Ungar:innen auf der Flucht vor der sowjetischen Verfolgung auf. Hier blicken vier von ihnen zurück – und auf die demokratische Entwicklung des Landes in den letzten 30 Jahren.

Wann immer der 87-jährige Vince Gösi aus dem Kanton Bern heute nach Ungarn fährt, besucht er in Budapest den Platz vor dem Parlament.

Dort stand er am Nachmittag des 23. Oktober 1956 und demonstrierte mit anderen Studierenden gegen die sowjetische Besatzung. Zentausende schlossen sich den jungen Leuten an.

Damit begann der 13-tägige Ungarische Volksaufstand. Die Protestierenden hatten 16 Forderungen, darunter freie Wahlen, den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn und eine Regierung unter dem Reformkommunisten Imre Nagy.

Eine Kugel traf den Studenten neben ihm

«Imre Nagy trat auf den Balkon», erinnert sich Gösi, damals Student der Nationalökonomie. «Er sprach uns als Genossen an – aber wir antworteten, dass wir keine Genossen mehr sind und pfiffen ihn aus.»

Die Studierenden machten sich Richtung Radio auf, um die 16 Forderungen zu verlesen. Einige drangen ins Gebäude ein; Gösi blieb draussen und hörte Schüsse. Eine Kugel der Polizei traf dann einen Studenten neben ihm. «Wir trugen ihn hinter ein Gebüsch. Aber er war tot.»

In den kommenden Tagen bewaffneten sich auch die Aufständischen.

Nur ein paar Wochen davor wurde der Aufstand in Polen blutig unterdrückt. Jetzt richtete die Weltöffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit nach Ungarn – und wurde Zeuge eines Einmarschs der Sowjetarmee.

Bis zu 3000 Menschen verloren bei den Kämpfen innert knapp zwei Wochen ihr Leben. 33’000 Aufständische landeten in Gefängnissen oder Internierungslager. Wie 200’000 andere Ungar:innen ergriff auch Vince Gösi die Flucht.

Vince Gösis Flucht über Österreich

«Als der zweite Angriff der sowjetischen Truppen begann, wollte ich zurück nach Budapest», erzählt Gösi, der zwischenzeitlich in das Dorf seiner Eltern nahe der österreichischen Grenze gereist war. «Aber meine Eltern meinten, ich solle fliehen. Wäre ich verhaftet worden, hätte ich wegen meiner Teilnahme am Aufstand lebenslänglich ins Gefängnis gemusst.»

Als die ersten sowjetischen Panzer sein Dorf erreichten, machte er sich allein auf den Weg Richtung Grenze. «Meine Mutter schnitt mir ein Stück Brot und ein Stück Speck. Fünf Stunden später war ich schon in Österreich.»

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In einer Kaserne wurde Gösi untergebracht. Da Österreich nicht alle Menschen behalten wollte, musste er sich für ein anderes Land entscheiden. Eigentlich habe ihn eine Familie überredet, nach Venezuela zu gehen. «Doch dann traf ich den Pfarrer aus meinem Dorf», erzählt Gösi. «Man müsse in der Nähe bleiben, meinte er, weil die USA und die UNO bald eingreifen würden.»

Am selben Abend fuhr ein Zug in die Schweiz – mit Vince Gösi an Bord.

Rosa Golarits erlebte grosse Solidarität in der Schweiz

Auf demselben Weg wie er kam auch Rosa Golarits in die Schweiz: Auch sie war eine jener 10’000 ungarischer Flüchtlinge, die der Bundesrat 1956 bedingungslos in die Schweiz einreisen liess.

Allerdings war Golarits damals 13-jährig, fast noch ein Kind.

Rosa Golarits
Rosa Golarits kam als Dreizehnjährige in die Schweiz und erlebte grosse Solidarität aus der Bevölkerung. Kira Kynd

«Bei der Ankunft im Schweizer Grenzort Buchs wurden wir geduscht und desinfiziert», erinnert sich Golarits. Die ersten Wochen verbrachte die Familie in einem Pensionshaus bei Wattwil im Toggenburg.

Schon bald bekamen sie Besuch von einer Vermittlerin, die die ungarischen Flüchtlinge nach ihren Berufen fragte. «Mein Vater war Weber mit Meistertitel», sagt Golarits. «Ein Tag, nachdem er das mitgeteilt hatte, bot man ihm eine Stelle in einer Weberei an – und eine möblierte Wohnung dazu.»

Bis dahin verband Rosa Golarits bloss Uhren mit der Schweiz , nun erlebte sie den antikommunistischen Zeitgeist. «Sehr viele Schweizerinnen und Schweizer halfen uns, weil wir Opfer der starken Sowjetunion waren. Ein kleines Volk hatte den Mut, aufzustehen. Man bewunderte die ungarische Jugend.»

Grosse Sammelaktionen, antisowjetische Proteste und die unbürokratische Zuteilung von Wohnungen und Arbeitsplätzen prägten den Umgang mit den ungarischen Flüchtlingen. Das brachte der Schweiz einerseits neue Fachkräfte, andererseits aber auch eine bessere Reputation auf internationaler Ebene. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Image der humanitären Tradition stark angekratzt.

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Ende 1956 zog Rosa Golarits mit ihrer Familie schliesslich in ein Haus in Schaffhausen – zusammen mit vier Jugendlichen, die ohne Eltern aus Ungarn geflüchtet waren. «Für meine Mutter war es wichtig, mit Ungarinnen und Ungaren zusammen zu sein – denn sie hatte schreckliches Heimweh.»

Den Schuleintritt verpasste Golarits wegen einer Hirnhautentzündung. Zum Trost brachten ihre Eltern eine kleine Schweizer Uhr mit ins Spital. «Ich sagte, sie gefalle mir sehr – aber ich wolle lieber wieder heim.» Nachdem sie im April dennoch die Schule begann, blieb sie dort bis zum Gymnasium und wurde später Primarlehrerin in Zürich.

Sympathien für Viktor Orbán

Der einstige Demonstrant Vince Gösi sagt, heute habe er mit Politik nicht mehr viel am Hut. Die heute 81-jährige Rosa Golarits sympathisiert mit Ungarns Präsident Viktor Orbán. «Trotz der grossen Ablehnung gegen ihn im Westen», wie sie sagt. Seit seinem Amtsantritt habe ihr seine Familienpolitik und die Förderung des Christentums gefallen. Auch die Migrationspolitik und der klare Kurs gegen die EU sage ihr zu.

Die demokratischen Institutionen von Ungarn gelten allerdings als stark geschwächt – durch den Kurs von Viktor Orbán, der seit 14 Jahren Ministerpräsident ist. 2022 verurteilte das Europaparlament die Entwicklungen in Ungarn und sprach dem Land den Status als Demokratie ab. Demnach handle es sich um eine «Wahlautokratie».

Auch Politikwissenschaftler:innen wie Ellen Bos sehen im Umbau der staatlichen Institutionen wie dem Justizwesen und den Einschnitten in die Meinungs- und Pressefreiheit seit 2010 eine immer stärker werdende autokratische Richtung. Orbán selbst rief 2014 die «illiberale Demokratie» aus – ein christlich begründeter Gegenbegriff, der sich bewusst gegen den westlichen Liberalismus stellt.

Seltenere Reisen ins illiberale Ungarn

Der 79-jährige Ödön Szabo liest heute zwei ungarische Zeitungen pro Tag. Ihm bereiten die antiliberale Politik der Regierung, der wieder aufkommende Antisemitismus und das Umschreiben der Geschichte Sorgen.

Es ist einer der Gründe, weshalb seine Reisen nach Ungarn in den letzten Jahren weniger wurden.

Ödön Szabo
Ödön Szabo leitete nach 1989 zwei Unternehmen in Ungarn. Heute reist er seltener ins Land. Kira Kynd

Als 11-Jähriger flüchtete Szabo mit seiner fünfköpfigen Familie 1956 in die Schweiz und lebt heute bei Basel. «Wir hatten Angst, dass den Verwandten etwas passieren könnte, deshalb schrieben wir keine Briefe.»

Erst nach einigen Jahren, als die Repression in Ungarn abnahm, habe seine Grossmutter auf Besuch in die Schweiz kommen können. In den 1970er-Jahren schliesslich bereisten mehrere Verwandte die Schweiz – unter der Garantie, dass man für die Kosten aufkommt.

Die Lockerungen in Ungarn waren Teil der politischen Entwicklungen während des sogenannten Gulaschkommunismus im Verlauf der 1960er- und 1970er-Jahre.

Das Regime gewährte grössere Reisefreiheiten und kurbelte die Konsumkultur an, forderte gleichzeitig von seinen Bürgerinnen und Bürgern, sich aus politischen Angelegenheiten herauszuhalten. So galt auch die Erinnerung an den Aufstand von 1956 als Tabu.

Ödon Szabo hatte kein Verständnis für «revolutionäre Studentenführer»

«In den ersten Jahren in der Schweiz stand ich stark unter dem Eindruck des Aufstandes», sagt Ödön Szabo. Als Jura-Student in Basel erlebte er die 1968er-Bewegung mit. Die Rede zweier revolutionärer Studentenführer pfiff er aus. «Damals sah ich in ihnen Repräsentanten jenes Kommunismus, vor dem wir geflüchtet waren.»

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Einst präsidierte Szabo den Basler Ungarn-Verein, organisierte Anlässe und vernetzte Ungarinnen und Ungaren in der Schweiz.

Als er in den 1970er-Jahren das erste Mal nach Ungarn zurückkehren wollte, erhielt er zunächst kein Visum. «Von der Tochter des ungarischen Botschafters in der Schweiz erfuhr ich, dass ich auf einer Liste stand und deshalb abgelehnt wurde.»

Später war ein Besuch in Ungarn dann doch möglich. «In Budapest besuchte uns mein Onkel im Hotel und legte als erstes seinen Mantel über das Telefon. Er hatte Angst vor Überwachung.» Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks folgten weitere Besuche.

Mit seiner Familie verbrachte Szabo Ferien am Plattensee und leitete später in Ungarn zwei Firmen im Versicherungsbereich. «Die Stimmung ging damals einhellig in Richtung Demokratie. Bis Viktor Orbán das alles wieder zurückdrehte.»

Laszlo Mihalyis Wünsche für einen harten Kurs der EU gegen Orbán

Auch Laszlo Mihalyi aus Erlinsbach ist enttäuscht von der jüngeren Entwicklung Ungarns. «Ich kann nicht begreifen, warum die EU nicht stärker gegen Orbán vorgeht», sagt der 85-Jährige. Mihalyi war während dem Aufstand 1956 noch ein Schüler.

Laszlo Mihalyi
Laszlo Mihalyi flüchtete 1981 über Algerien in die Schweiz. Kira Kynd

Gemeinsam mit anderen Jugendlichen verfolgte er die Geschehnisse vom Fenster aus, auf der Strasse sprachen sie mit Angehörigen der Sowjetarmee. «Als diese sich zwischenzeitlich zurückzogen, waren wir glücklich. Es war wunderbar – wir wurden alle befreit.»

Nach der Einreise über Algerien, wo er für eine ungarische Aussenhandelsgesellschaft arbeitete, beantragte er mit seiner Familie 1981 in der Schweiz Asyl. Hunderte Ungar:innen taten dies Jahre oder, wie Mihalyi, gar Jahrzehnte nach dem Aufstand.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wieder zurückzugehen? Dies konnte sich Mihalyi nie vorstellen. Die chaotische Stimmung in Ungarn nach 1990 habe ihn bedrückt. «Der junge Orbán war damals der erste, der einen Systemwechsel forderte.» Damals hoffte auch er auf Orbán.

Dass aus Viktor Orbán jener wird, der die Demokratie wieder abbaut, hätte sich Mihalyi damals nicht vorstellen können.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Benjamin von Wyl

Woher schöpfen Sie Optimismus für die Demokratie?

2024 sind so viele Menschen zur Wahl aufgerufen, wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. In dieser Situation fragen wir, aus welchen Gründen Sie doch noch Hoffnung schöpfen für die Demokratie in Ihrem Wohnland und in der Welt?

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Editiert von Benjamin von Wyl

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