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Wie steht es mit den Rechten der LGBTIQ in der Schweiz?

Für Regenbogenfamilien besteht Hoffnung auf Anerkennung

Sarah, Ambra und Simona Liechti
Simona und Sarah Liechti werden zufrieden sein, wenn ihre einjährige Tochter Ambra vor dem Gesetz zwei Mütter hat. Daniel Rihs

Reisen ins Ausland, um ein Kind zu zeugen, langwierige Adoptionsverfahren und rechtliche Unsicherheiten: Schweizer Regenbogenfamilien hoffen, dass die Ehe für alle ihren manchmal komplexen Alltag einfacher machen wird, dank einem angepassten Rechtsrahmen.

“Sarah wird endlich offiziell meine Frau sein können. Das ist doch viel romantischer, als zu sagen: Sie ist meine eingetragene Partnerin.” Ein ansteckendes Lächeln liegt auf Simona Liechtis Gesicht, als sie den jüngsten Beschluss des Schweizer Parlaments zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare kommentiert.

Allerdings beklagt die 37-jährige Juristin, dass die Schweiz weit hinter ihren europäischen Nachbarn hinterherhinkt. Tatsächlich wurde die Schweiz von den meisten Staaten Westeuropas überholt, die bereits seit einigen Jahren die Ehe für alle erlauben.

Obwohl das Referendum lanciert wurde (siehe Kasten unten) und es vielleicht noch zu einer Volksabstimmung kommen wird: Die Aussicht, heiraten zu können, ist nicht nur von symbolischem Wert für gleichgeschlechtliche Paare, sondern auch eine Garantie für einen besseren Rechtsschutz für Regenbogenfamilien.

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Eine Samenbank in Kopenhagen 

Seit 2016 leben Simona und Sarah Liechti in einer eingetragenen PartnerschaftExterner Link, eine Form der Verbindung, die in der Schweiz nur homosexuellen Paare offen steht. Trotz dieser Partnerschaft haben sie aber in der Schweiz legal keinen Zugang zu medizinisch unterstützter Fortpflanzung. Daher wandten sich die beiden Frauen, als sie ein Kind wollten, an eine Samenbank in Kopenhagen.

Einst war die Schweiz in Sache LGBTIQ-Rechte Avantgarde. Heute liegt sie hinter den Nachbarn zurück. Mehr dazu in unserem Fokus:

In Dänemark ist es Lesben seit langem erlaubt, medizinisch unterstützte Fortpflanzung zu nutzen. “Zudem gibt das Gesetz unserer Tochter die Möglichkeit, die Identität des Spenders zu erfahren, wenn sie 18 Jahre alt wird. Das ist ein Vorteil, der für uns entscheidend war”, sagt Simona Liechti.

Es brauchte mehrere Reisen in die dänische Hauptstadt, bis Simona Liechti schwanger wurde. “Wenn wir es in der Schweiz, in vertrauter Umgebung, hätten machen können, hätten wir uns wohler gefühlt. Der Prozess ist an sich schon emotional, und dafür ins Ausland reisen zu müssen, erhöht den Stress”, sagen die beiden Frauen.

Dazu komme das seltsame Gefühl, für ein Projekt, welches man zu Hause nicht durchführen dürfe, in ein anderes Land reisen zu müssen. “Auch wenn es nicht illegal ist, hinterlässt die Erfahrung einen schalen Nachgeschmack”, sagt Sarah.

Zwei Gruppen, die gegen die Ehe für alle sind, wollen mit Hilfe eines Referendums gegen den Entscheid des Schweizer Parlaments kämpfen. Die Eidgenössische Demokratische Union (EDU), eine kleine ultrakonservative christliche Partei, hatte schon vor einigen Monaten angekündigt, dass sie gegen die Gesetzesänderung das Referendum ergreifen werde.

Ende Dezember tauchte dann eine weitere Gruppe auf: Politiker der Schweizerischen Volkspartei (SVP; nationalkonservative Rechte) und der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP/seit 1. Januar 2021 “Die Mitte”) bildeten ein zweites Komitee, das ebenfalls eine Unterschriftensammlung gegen die Gesetzesrevision starten wird. Dieses Komitee stört sich vor allem an der Samenspende für lesbische Paare und will sich “auf den Zugang zur Fortpflanzungsmedizin konzentrieren und sich damit von den Argumenten der EDU und ihrer Partnerorganisationen abgrenzen”.

Mangelnder Rechtsschutz für Kinder

Ambra sitzt auf ihrer Spielmatte und vergnügt sich mit einer elektronischen Uhr, die sie ergattern hat. Dass ihre Eltern zwei Frauen sind, spielt für das kleine Mädchen keine Rolle.

In den Augen des Gesetzes sieht es jedoch anders aus: Ambra geniesst nicht den gleichen Schutz wie Kinder von heterosexuellen Ehepaaren. “Rechtlich betrachtet ist sie nur meine Tochter. Falls mir etwas zustossen sollte, würde sie nach Schweizer Recht als Waise gelten”, beklagt Simona Liechti.

Ambra spielt mit einer Uhr umgeben von ihren beiden Müttern.
Um Zugang zu medizinisch unterstützter Fortpflanzung zu haben, reiste das Paar nach Kopenhagen. Daniel Rihs

Trotz dieser Gesetzeslücke weiss die Anwältin, dass die Tochter im Falle ihres Todes wahrscheinlich weiter bei ihrer Partnerin Sarah leben dürfte. “Eine gewisse Unsicherheit bleibt jedoch bestehen. Wir werden erst völlig beruhigt sein, wenn Ambra rechtlich gesehen zwei Mütter hat”, sagt sie.

Es könnte aber noch ein langer Weg sein, bis Sarah Liechti offiziell die zweite Mutter des kleinen Mädchens wird, das sie mit ihrer Partnerin grosszieht. Um die Kriterien für den Beginn des Adoptionsprozesses zu erfüllen, musste sie warten, bis Ambra am vergangenen 25. Dezember ihren ersten Geburtstag feierte.

Danach muss eine Vielzahl an Dokumenten ausgefüllt werden. Ein langer, beschwerlicher und kostspieliger Prozess. “So muss ich zum Beispiel erklären, was für eine Beziehung ich zu meiner Tochter habe, was absurd ist”, sagt Sarah Liechti.

“So muss ich zum Beispiel erklären, was für eine Beziehung ich zu meiner Tochter habe, was absurd ist.”

Sarah Liechti

Wenn die Ehe für alle, wie sie das Parlament nun im Gesetz vorsieht, in der Schweiz in Kraft tritt, werden lesbische Paare Zugang zu medizinisch unterstützter Fortpflanzung haben. Das wird ihnen in Zukunft unnötige Reisen ins Ausland und Adoptionsverfahren ersparen, da beide Partnerinnen bei der Geburt des Kindes automatisch als Eltern anerkannt werden.

Wer sich für eine Lösung im Ausland entscheidet, wird aber weiterhin ein Adoptionsverfahren durchlaufen müssen. Ein Punkt, den Vereinigungen für die Rechte von LGBTIQ-Menschen kritisieren.

Ein Gesetz, das der Zeit hinterherhinkt 

Die Schweizer Gesetzgebung scheint der gesellschaftlichen Realität hinterherzuhinken, denn Fachleute schätzen, dass im Land etwa 30’000 Kinder in Regenbogenfamilien aufwachsen, in denen sich mindestens ein Elternteil als schwul, lesbisch, bisexuell oder transgender versteht. Auch die Einstellungen scheinen sich schneller geändert zu haben als die Gesetzgebung. “Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, dass wir kein Recht haben, zu heiraten”, sagt Liechti.

Im Jahr seit der Geburt ihrer Tochter ist die Familie Liechti weder auf  Widerstand noch Diskriminierung gestossen, höchstens auf ein bisschen Unbehagen. “Bei der ersten ärztlichen Untersuchung von Ambra fragte uns die Kinderärztin, ob ich die Tante sei”, sagt Sarah Liechti und lacht.

Während Simona und Sarah Liechti ihre Liebe und ihr Leben als Mütter in vollen Zügen geniessen können, haben sie das Gefühl, dass die Schweiz in Bezug auf Rechte für die LGBTIQ-Community noch viele Fortschritte machen muss. “Die Situation für Transgender-Menschen ist noch immer schwierig. Ich habe den Eindruck, dass die Gesellschaft bei der Transidentität jetzt etwa auf dem gleichen Stand ist, wie vor 15 Jahren bei der Homosexualität”, sagt Sarah Liechti.

Ambra auf den Schultern von Sarah
Nach geltendem Recht muss Sarah Liechti ein Adoptionsverfahren einleiten, um als Mutter des Kindes anerkannt zu werden. Daniel Rihs

“Ich hoffe, dass die Leute sie nicht ständig fragen werden, wo denn ihr Papa sei”, sagt Sarah Liechti und gibt ihrer Tochter einen Kuss. Noch unberührt von den Sorgen der Erwachsenen lacht Ambra, die jetzt einen kleinen roten Fleck auf der Wange hat. “Hat man zwei Mütter, ist die Wahrscheinlichkeit für einen Lippenstiftfleck letztlich einfach doppelt so gross”, scherzt Sarah Liechti.

(Übertragen aus dem Französischen von Rita Emch)

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