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“Es entstehen neue Formen des Protektionismus”

Das Scheitern in Genf könnte laut Luzius Wasescha das Rezessionsrisiko vergrössern.

Nach dem Scheitern des WTO-Ministertreffens in Genf dürfte es schwierig werden, die Verhandlungen im Rahmen der sogenannten Doha-Runde wieder aufzunehmen. Diese Meinung vertritt der Chef der Schweizer Delegation, Botschafter Luzius Wasescha im Interview mit swissinfo.

Nach zehn Tagen intensiver Gespräche in Genf sind die Verhandlungen über ein neues Abkommen zur Liberalisierung des Welthandels gescheitert.

Einige Minister haben verlangt, dass die Gespräche so bald wie möglich wieder aufgenommen würden. Dieser Meinung ist auch der Direktor der Welthandelsorganisation WTO. Pascal Lamy warnte vor einem Liberalisierungs-Rückschritt und rief dazu auf, das Erreichte zu bewahren.

Botschafter Luzius Wasescha, der die Schweizer Delegation gemeinsam mit Volkswirtschaftsministerin Doris Leuthard leitete, sieht einige Probleme auf die WTO zukommen.

swissinfo: Ist es realistisch, von einer baldigen Wiederaufnahme der Verhandlungen im Rahmen der Doha-Runde auszugehen?

Luzius Wasescha: Gewisse Länder haben den Eindruck, dass es definitiv vorbei sei, andere wünschen, dass die Verhandlungen so bald wie möglich wieder aufgenommen würden.
Vorerst muss auf interner Ebene für jedes Land abgeklärt werden, was machbar ist. Danach muss man prüfen, was auf technischer Ebene machbar ist, welche Kontakte zu favorisieren sind, um neue Verhandlungen zu lancieren. Das dürfte die Agenda für dieses Jahr bestimmen.

swissinfo: Aber je länger es dauert, umso schwieriger wird die Wiederaufnahme der Diskussionen sein und umso höher die Erwartungen?

L.W.: Das ist klar.

swissinfo: Um aus der Sackgasse zu gelangen, haben die USA die Idee eines begrenzten Abkommens ins Spiel gebracht, obwohl die WTO-Regeln für ein Abkommen den Konsens in allen Bereichen vorschreiben. Ist das eine gute Idee?

L.W.: Das ist eine der Optionen, die man im September diskutieren muss. Wir sind offen für die Diskussion, obwohl uns der Vorschlag sehr problematisch erscheint, weil er Gefahr läuft, dass ihn die Entwicklungsländer ablehnen. Diese befürchten nämlich nach wie vor, ausgeschlossen zu werden.

swissinfo: Hat das Treffen in Genf nicht auch deutlich gemacht, wie sehr die einzelnen Länder oder Gruppen von Ländern geteilt sind?

L.W.: Tatsächlich. In der EU zum Beispiel haben einige Ländern den Eindruck, dass sie alles gegeben und nicht bekommen haben, während andere dachten, es sei korrekt, auf die Schlussverhandlungen der Doha-Runde zu setzen, und erst in Genf Zugeständnisse zu machen.

swissinfo: Das Scheitern des Ministertreffens in Genf wird auch mit der aktuellen Wirtschaftskrise, der Furcht vor grösserer Konkurrenz durch die Schwellenländer oder mit der Nahrungskrise erklärt. Sind diese Begründungen stichhaltig?

L.W.: Es ist ein Erklärungsaspekt. Aber das entscheidende Element ist der Mangel an Flexibilität sowohl seitens der amerikanischen Wirtschaftsministerin Susan Schwab wie ihres indischen Amtskollegen Kamal Nath. Andererseits finden sich in vielen Ländern keine Mehrheiten – in der Bevölkerung oder im Parlament – zugunsten der Verhandlungen. Die USA, Indien, Japan und die Europäische Union haben da gegensätzliche Positionen.

swissinfo: Nach jedem Scheitern der WTO-Verhandlungen stellt sich die Frage, ob der Protektionismus Auftrieb bekommt. Ist das realistisch?

L.W.: Es gibt sogar neue Formen des Protektionismus, und dies vor allem in Entwicklungsländern. Um sich vor der chinesischen Konkurrenz zu schützen, bekämpfen diese Länder indirekt die europäischen und amerikanischen Interessen. Diese Importbeschränkungen betreffen nicht nur ein bilaterales, sondern ein generelles Handlungsfeld. Man muss deshalb befürchten, dass sich in Zukunft solche Massnahmen entwickeln werden.

Dieses Scheitern ist tatsächlich ein sehr schlechtes Signal, das die Unfähigkeit zeigt, sich auch nur in bescheidenen Fragen zu einigen. Das kann protektionistische Kreise ermuntern, noch mehr in die Offensive zu gehen.

swissinfo: Der Welthandel läuft somit nach den bei der Uruguay-Runde vereinbarten Regeln weiter. Verursacht das nicht wachsende Probleme?

L.W.: Einige dieser Regeln sind wahrscheinlich veraltet. Viel gefährlicher ist jedoch, dass die Lösungen der derzeitigen Projekte der Doha-Runda in sich zusammenfallen könnten, da sich ihre Bezugszeiträume im Moment immer weiter von der wirtschaftlichen Realität entfernen.

swissinfo: Und welche Auswirkungen wird dieses Scheitern auf die Schweiz haben?

L.W.: In der Schweiz befinden wir uns in einer komfortabeln Situation, da wir hauptsächlich Spezialitäten exportieren. Aber wenn unsere wichtigsten Kunden zu husten beginnen, wächst auch das Erkältungsrisiko der Schweizer Wirtschaft. Dieses Scheitern erhöht auch das Rezessionsrisiko.

swissinfo: Können sich die Bauern nun sicher vor neuen Reformen fühlen?

L.W.: Der interne Reformprozess wird weitergehen. Aber je weiter wir vorankommen, desto mehr wird sich die Rechnung der Landwirtschaft (im Rahmen künftiger Vereinbarungen) erhöhen.

swissinfo: In der Vergangenheit hat die Schweiz ihre guten Dienste angeboten, um die Verhandlungen zu erleichtern. Wird sie das wieder tun?

L.W.: Wir führen diese Übung in diesem Jahr bei den ständigen Vertretern bei der WTO durch. Ausserdem hat Doris Leuthard ihre Bereitschaft signalisiert, 2009 ein Treffen auf Ministerebene auf dem Weltwirtschafts Forum von Davos abzuhalten, so wie es die Schweiz auch in den letzten Jahren gemacht hat.

swissinfo-Interview: Frédéric Burnand in Genf
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler und Etienne Strebel)

Die 153 Mitglieder der WTO verhandeln über eine grössere Liberalisierung des Welthandels im Rahmen der 2001 lancierten Runde in Doha, der Hauptstadt von Katar.

Die Länder sind sich nicht einig über das genaue Niveau der Zollsenkungen, über die internen Reduktionen der Agrarsubventionen und über den Grad der Flexibilität für die Entwicklungsländer bei der Öffnung ihrer Märkte.

Im Juli 2006 wurden die Verhandlungen bereits einmal abgebrochen. Mit einer Neuaufnahme ist nach dem jetzigen Scheitern wohl nicht vor 2010 zu rechnen.

Die Schweiz war im Agrarbereich zurückhaltend. Sie setzte sich für eine Liberalisierung der Dienstleistungen und eine Senkung der Zolltarife auf Industrieprodukten ein.

Um folgende Lösungslinien werden auch zukünftige Verhandlungen nicht herumkommen: Die USA müssen ihre Agrarsubventionen kürzen, die EU muss ihren geschützten Markt öffnen, die Entwicklungsländer ihre Industrie-Zolltarife senken.

Dazu kämen Massnahmen, um die Dienstleistungs-Branchen zu liberalisieren.

Der Hauptsitz der WTO in Genf wird renoviert und erweitert. Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und WTO-Generaldirektor Pascal Lamy haben ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet.

Die Schweiz wird sich mit 45 Mio. Franken an der Renovation des “Centre William Rappard” beteiligen. Weitere 10 Mio. Franken sind für den Bau einer neuen Tiefgarage vorgesehen.

Mit den 15 Millionen Franken Mietkosten des Provisoriums ergibt sich für den Bund ein Gesamtbetrag von 70 Millionen Franken. Die WTO wird 60 Millionen Franken investieren.

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