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Folsäure erobert die Nahrungsmittel

Ob alle Brote in der Schweiz künftig Folsäure enthalten sollen, wird noch viel zu reden geben. Keystone

Ein Mangel an Folsäure im Körper gilt als Risikofaktor für etliche Krankheiten. In der Schweiz sind deshalb immer mehr Produkte auf dem Markt, die mit dem Vitamin B9 angereichert sind.

Dem Ansinnen, dem Brotmehl generell Folsäure beizugeben, erwächst aber Widerstand.

Als die ehemalige Schweizer Skirennläuferin Maria Walliser ein Kind mit offenem Rücken (Spina bifida) zur Welt brachte, zeigte die ganze Schweiz Mitleid. Dass das Kind ein Leben lang an den Rollstuhl gebunden sein wird, schockte viele. Und man fragte sich: was ist Spina bifida?

Heute, mehr als zehn Jahre später, ist Maria Walliser Patin und treibende Kraft der «Folsäure Offensive Schweiz». Sie setzt sich dafür ein, dass in der Schweiz Lebensmittel mit Folsäure aus kaltgepressten Weizenkeimen angereichert werden.

Gesundheitliche Schäden vermindern

Warum diese Offensive? Einmal sei Folsäure (oder Vitamin B9) notwendig für die Entwicklung des Rückenmarks beim ungeborenen Kind. Eine erhöhte Zufuhr von Folsäure vor und zu Beginn einer Schwangerschaft unterstützt die normale Ausbildung des Neuralrohrs. Ein Mangel kann zu offenem Rücken beim neugeborenen Kind führen.

«Rund 70 Prozent aller Fälle von Spina bifida könnten durch eine ausreichende Einnahme von Folsäure verhindert werden», heisst es bei der «Folsäure Offensive».

Wird dem Körper bei «normaler» Ernährung zu wenig Fohlsäure zugefügt?

Der 4. Schweizer Ernährungsbericht von 1998 sagt aus, dass grosse Teile der Schweizer Bevölkerung tatsächlich zu wenig des wichtigen Vitamins zu sich nehmen.

Nebst möglichen Missbildungen des Kindes bei Schwangeren, gilt eine geringe Folsäureversorgung auch als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Krankheiten, Depressionen, Alzheimer und Krebs.

«Am empfindlichsten reagiert die Blutbildung auf einen Mangel an Folsäure», erklärt Professor Otmar Tönz vom Kinderspital Luzern auf der Internetseite von «Folsäure Offensive Schweiz».

In der Schweiz wird eine Tagesdosis von 0,2 Milligramm empfohlen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt 0,3 Milligramm, die Gremien in den USA sprechen gar von 0,4 Milligramm. Schwangere benötigen das Doppelte.

Die tägliche Zufuhr in der Schweiz liegt bei durchschnittlich rund 0,25 Milligramm. «Das ist zu wenig», sagt Tönz.

Private Offensive

«Die Folsäure Offensive Schweiz versucht, auf private und unternehmerische Weise die Abgabe von Folsäure zu verbessern», sagt Erich P. Meyer, Gründer und Geschäftsführer der Offensive gegenüber swissinfo.

Meyer will in der Schweiz Unternehmen der Nahrungsmittelbranche dafür gewinnen, ihre Lebensmittel um ein «folsäureangereichertes Produkt» zu ergänzen. Der Anreiz für die Firmen: der Konsument kauft ein so genanntes «Functional Food»-Produkt. Dies soll den Umsatz heben, zumal diese Produkte etwas teurer sind.

Davon profitiert auch Meyer: Er war vor kurzem noch Eigentümer des Lebensmittelzusatz-Herstellers Multiforsa. Das Unternehmen erwirtschaftet die Hälfte des Umsatzes von 50 Mio. Franken mit Viogerm, einem folsäurereichen Weizenextrakt, das in der Schweiz mittlerweile bei bald hundert Produkten zugesetzt wird.

So finden Konsumenten im Laden Produkte, die ein entsprechendes Logo tragen und damit ausweisen, dass sie mit Folsäure angereichert sind. «Diese Produkte sind dann in der Regel schon deshalb etwas teurer, weil Folsäure, anders als Vitamin C, kein billiges Vitamin ist», sagt Meyer.

Bislang funktioniere die Offensive «gut bis sehr gut», sagt Meyer. Zahlreiche Unternehmen hätten mittlerweile Produkte mit künstlich beigefügter Folsäure im Sortiment.

Darunter die Branchenriesen Nestlé, Coop und Migros. Auch im weit verbreiteten Getränk Rivella fehlt das Vitamin nicht. Dabei müssen die in der Lebensmittelverordnung genau definierten Rahmenbedingungen eingehalten werden.

Brotmehl anreichern?

Beabsichtigt ist, dem Brotmehl obligatorisch Folsäure beizugegeben. Für Erich P. Meyer wäre das die kostengünstigste Versorgung der Bevölkerung mit dem Vitamin.

Dagegen regt sich allerdings starker Widerstand. Die Stiftung Konsumentenschutz (SKS), welche Folsäure im Brot zum Thema machte, erhielt praktisch nur ablehnende Zuschriften.

«Wir fühlen uns bevormundet», war der Haupttenor der Konsumentinnen und Konsumenten. Fast alle äusserten sich gegen eine Anreicherung des Brotes.

Beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) prüft zur Zeit eine Expertengruppe, ob und wie eine Anreicherung des Backmehls mit Folsäure umgesetzt werden könnte.

«Wir prüfen die gesetzlichen Voraussetzungen, aber auch diverse andere Möglichkeiten», sagt Michael Beer, Abteilungsleiter Lebensmittel-Wissenschaft beim BAG. Man nehme die Einwände und Befürchtungen der Gegner sehr ernst.

Sonst kann Beer noch kaum Konkretes sagen. «Was punkto Anreicherung des Brotmehls rauskommt, ist noch nicht bekannt», sagt Beer, der persönlich die «Folsäure Offensive» gut findet.

Einen Zeitrahmen gibt es vorerst nicht. «Wenn die Vorschläge ausgearbeitet sind, werden sie zuerst in eine breite Vernehmlassung geschickt», sagt Beer.

Erich P. Meyer von der «Folsäure Offensive» ist wenig optimistisch. «Vermutlich lässt sich eine generelle Anreicherung des Brotmehls in der Schweiz nicht verwirklichen», sagt er.

Dass nun wegen mit Folsäure angereicherten Lebensmitteln aus einer Unter- plötzlich eine Überversorgung der Menschen entsteht, befürchten weder Meyer noch Beer. Das sei wegen der vielen Vorschriften nicht möglich.

Zudem käme keine der Untersuchungen zum Schluss, dass zuviel Folsäure schädlich sei. «Das Vitamin ist wasserlöslich, es wird beim Wasserlassen ausgeschieden», sagt Meyer.

swissinfo, Urs Maurer

Hier ist Folsäure drin:

Fenchel, Kopfsalat, Tomate, Rettich
Vollkornbrot, Weizenkeime, Weizenkleie
Quark, Käse, Bäckerhefe
Banane, Honigmelone, Kiwi, Avocado
Erdnuss, Walnuss

Spina bifida:
Angeborene Fehlbildung der Wirbelsäule (Fehlen der Wirbelbögen) und des Rückenmarks.

Neuralrohr:
In der Embryonal-Entwicklung wird das Neuralrohr zum Rückenmark, dem Gehirn und dem Schädel.

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