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Klischees – Clichés

Das Ehepaar Baumann, Gastschreiber der deutschsprachigen Redaktion. zvg

Jeder abgedroschene Gemeinplatz, sei er noch so falsch, bleibt in unseren Köpfen kleben und wartet nur darauf, dass wir ihn bei der kleinsten zufälligen Übereinstimmung hervorholen.

Nichts ist dauerhafter und hartnäckiger als ein Klischee, und zwar überall.

Während unseren Ferien in der Schweiz war es sehr heiss in der Gascogne, nur einmal habe es kurz geregnet. Das wissen wir aus den E-mails von Séverine, die immer sehr zuverlässig den Garten betreut, wenn wir nicht da sind. Sie hatte also viel zu tun mit Giessen. Séverine hat eine Schwäche für Schweizer Schokolade. Die kleinen Frigörli in der nostalgischen Kartonschachtel mag sie besonders gern. Die sollen wir ihr mitbringen.

Aber nichts ist mehr wie früher. Heute stehen ein paar wenige Schoggi-Carrés vereinzelt und einsam in einer von Jean Nouvel kreierten Plastikschachtel. «In Reih und Glied bereit für den Genuss richten sie sich in der dynamisch gestalteten Verpackung stolz auf», lesen wir in der Werbung und zweifeln, ob man uns mit dieser Soft-Porno-Schoggi in der nicht reziklierbaren PET-Verpackung überhaupt über die französische Grenze lassen wird. Wir halten Sie auf dem Laufenden.

Clichés

Franzosen gelten in Amerika als Intellektuelle, weil sie viel reden und zu allem eine Meinung haben. Wir aber kennen nur einen einzigen solchen Franzosen persönlich, Olivier. Der kommt aber ursprünglich aus Ungarn. Daneben natürlich auch noch ein paar Politiker, sowohl in Frankreich wie auch in der Schweiz.

Dass nicht alle Schweizer stinkreich sind, haben unsere Freunde in Frankreich schnell gemerkt. Ein anderes Cliché hingegen sehen sie bei jedem ihrer Besuche von neuem bestätigt: Alles sei immer so aufgeräumt und herausgeputzt bei uns, typisch schweizerisch eben, haben sie gespottet.

Bis dann im letzten Jahr Franzosen ins Dorf gezogen sind. Ihr Haus und der Gemüsegarten lassen keine Wünsche offen. Alles blitzblank und die Gartenbeete akkurat ausgerichtet, ohne ein einziges Unkraut. Josette und Jean-François sind schweizerischer als wir es je sein werden!

Dass die Franzosen spontane, Wein trinkende und charmante Lebenskünstler sind, das können wir gerne bestätigen. Wenn auch mit Einschränkungen: einige sind spontaner als andere und ein paar trinken weniger Wein als wir und viele unserer Schweizer Freunde.

Dass alle Franzosen Baguette essen, das hingegen wissen wir genau, stimmt überhaupt nicht. Séverine bäckt ihr Körnerbrot selber und Josette fährt einige zusätzliche Kilometer zum Bio-Brot-Bäcker.

Le quart d’heure gasconne

Dass die Schweizer pünktlich sind, mag oft zutreffen, die SBB sind es fast immer. Aber dass man die Handwerker in Frankreich schlicht vergessen solle, weil sie erstens ewig nie auftauchten und zweitens schludrig arbeiteten, ist übelste Nachrede.

Wir waren von der speditiven und sauberen Arbeit unseres Dachdeckers und auch des Heizungsmonteurs tief beeindruckt. Und als eines Abends ein Blitzschlag alles lahm legte im Haus, kam der übers Handy herbeigerufene Monteur der France Telecom schon am nächsten Morgen früh angebraust, brachte die Telefonleitung in Ordnung und avisierte die Electricité de France.

Eine Stunde später kontrollierten die Staats-Elektriker bereits die Zuleitung und holten nebenbei noch schnell ein Wespennest vom Dach. Sie erklärten bedauernd, dass sie für die Installationen im Haus nicht zuständig seien, fanden in der Region einen privaten Elektriker, der nach einer halben Stunde schon überall im Haus die Steckdosen flickte. Dies alles an einem Samstag.

Die quart d’heure gasconne, die Viertelstunde Verspätung, welche in der Gascogne dreissig Minuten zählt, gilt nicht für Handwerker, die kommt nur bei Einladungen und Festivitäten zum Zuge. Eine sinnvolle Gewohnheit, damit Gastgeberinnen und Organisatoren in Ruhe ihre Vorbereitungen abschliessen können. Wenn wir schon zur abgemachten Zeit auf der Matte standen, wurde das gar nicht so gern gesehen. Also haben wir uns angepasst.

Vorurteile und pauschale Verurteilung

Klischees können nett und niedlich sein, meist sind sie es aber nicht. Uns stört es gar nicht, wenn wir im Ausland mit den Schweizer Bergen, Uhren und Schokolade in Verbindung gebracht werden. Allerdings haben wir damit so wenig zu tun wie mit den Fluchtgeldern, die im Schutz des Bankgeheimnisses auf Schweizer Nummernkonten landen. Darauf werden wir aber häufiger angesprochen als auf die schönen Schneeberge.

Wir beeilen uns jeweils zu versichern, dass auch wir gegen das Bankgeheimnis sind. Wir haben das Glück, dass man uns das glaubt. Andere haben es da schwerer. Stellen wir uns mal vor, wir müssten dauernd erklären: Ich bin Kosovo-Albaner, aber trotzdem kein Krimineller. Oder: Ich bin Muslimin, aber trotzdem keine Fundamentalistin und schon gar keine Terroristin.

Der Weg vom Klischee zum verallgemeinernden Vorurteil ist kurz. Und ebenso kurz ist der Weg vom Vorurteil zur Pauschalisierung, zu Hass, Fanatismus und Rassismus.

Stephanie und Ruedi Baumann

Die Meinung des Autorenpaars muss nicht mit jener von swissinfo übereinstimmen.

Stephanie Baumann, Jahrgang 1951, war Berner Kantonsrätin und Nationalrätin für die Sozialdemokraten. Zudem amtete sie als Verwaltungsrats-Präsidentin des Berner Inselspitals.

Ruedi Baumann, Jahrgang 1947, ist gelernter Bauer und Agronom. Er war Gemeinderat, Kantonsrat, Nationalrat und Präsident der Grünen Partei Schweiz.

Stefanie und Ruedi Baumann haben zwei Söhne. Die Familie bewirtschaftete 28 Jahre lang einen Bauernbetrieb in Suberg, im Berner Seeland, bevor sie im Jahr 2003 nach Frankreich auswanderte.

Heute leben die Baumanns in der Gascogne, 100 km westlich von Toulouse, und sind als Biobauern auf ihrem eigenen Hof tätig.

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