Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Forschung im Gehirn von Zweisprachigen

Eine Integrationsklasse aus Schlieren (ZH), wo Mehrsprachigkeit gefördert wird. Keystone

Das Hirn von zwei- und mehrsprachigen Personen ist nicht komplexer vernetzt als jenes von Menschen, die eine Sprache sprechen. Zum Internationalen Tags der Muttersprache gibt der Neurologe Jean-Marie Annoni Auskunft über neueste Forschungsergebnisse.

Die Schweiz weist im Vergleich mit anderen Ländern mit 40 Prozent einen besonders hohen Anteil zweisprachiger Personen auf.

swissinfo.ch sprach mit Jean-Marie Annoni, verantwortlicher Arzt an der Abteilung für Neuropsychologie des Universitätsspitals Genf, der sich seit Jahren mit diesem Thema befasst.

swissinfo.ch: Forschungen der Neurologischen Klinik des Universitätsspitals Genf zeigen, dass zwei Sprachen im Hirn nicht mehr Platz brauchen als eine.

Jean-Marie Annoni: Ja, genau. Die beiden Sprachen werden von denselben Hirnstrukturen verwaltet. Es existiert eine Art Schalter, der die gewünschte Sprache aktiviert und die andere blockiert. Es handelt sich dabei um Kontrollmechanismen im Hirn, die auch bei anderen Hirnaktivitäten zu beobachten sind.

Etwas anders verhält es sich bei Kindern, die bereits vor dem 5. Altersjahr zwei Sprachen beherrschen. Sie sind richtiggehend ineinander verwoben.

Lernt jemand eine zweite Sprache erst später wird diese von denselben Hirnstrukturen verwaltet, nimmt aber teilweise ein bisschen mehr “Speicherplatz” im Hirn in Anspruch.

swissinfo.ch: Kann man perfekt zweisprachig sein, oder beherrscht man eine der beiden Sprachen einfach besser?

J.-M.A.: Es gibt Leute, die zweisprachig aufwachsen, wobei sie die eine Sprache mit der Mutter und die andere mit dem Vater sprechen. Bei diesen Personen könnte man von perfekten Bilingues sprechen. Doch mit zunehmendem Alter entwickeln diese Personen im Allgemeinen eine Präferenz für eine Sprache, sei es die Schulsprache oder die Arbeitssprache.

In jedem Fall wird die Person in den beiden Sprachen unterschiedliche Kompetenzen entwickeln. So kann sich etwa jemand mit einer Sprache besser in der Arbeitswelt bewegen und verwendet in emotionalen Angelegenheiten die andere.

swissinfo.ch: Sie haben den Unterschied zwischen dem frühen und späten Erlernen einer Sprache angesprochen. Kann man sagen, je früher man eine Sprache lernt, desto besser?

J.-M.A.: Lernt man eine Sprache nach dem 5. Altersjahr, kann die Beteiligung der Hirnstrukturen etwas unterschiedlich ausgeprägt sein. Doch das heisst nicht, dass jemand deshalb eine Sprache weniger gut beherrscht.

Ich kenne zahlreiche Personen, die erst später eine zweite Sprache erlernten und diese genau so gut wie ihre Erstsprache sprechen. Manche beherrschen die Zweitsprache sogar besser, weil sie in einem Kontext leben, wo sie in erster Linie diese benutzen.

Ein Nachteil für Personen, die später eine Zweitsprache lernen, ist der phonologische Ausdruck. Während Kinder bis ca. ins 7. Lebensjahr etwa automatisch lernen das französische “r” oder das italienische “rr” korrekt auszusprechen, muss man dies später lernen. Manche bringen das jedoch sehr gut hin.

swissinfo.ch: Gibt es eine angeborene Sprachbegabung?

J.-M.A.: Wie beim Lesen und Schreiben gibt es auch bei der Phonologie Leute, die schneller oder effizienter lernen. Leute, die ein gutes Ohr haben. Dies erklärt zum Teil auch, weshalb manche eine Fremdsprache schneller lernen als andere.

Dass gewisse Ländern wie etwa in der Schweiz einen so hohen Anteil von Zweisprachigen aufweisen, hat jedoch kulturelle Hintergründe.

swissinfo.ch: Manche Leute beherrschen mehr als zwei Sprachen. Wie viele Sprachen kann man wirklich lernen?

J.-M.A.: Man hat festgestellt, dass es jemandem, der bereits vier Sprachen spricht, leichter fällt, sich die Grundlagen einer neuen Sprache anzueignen. Das Hirn entwickelt wahrscheinlich gewisse spezifische Kompetenzen.

Menschen können vier bis fünf Sprachen ziemlich gut voneinander trennen. Wir haben jedoch nicht untersucht, wie viel “Speicherplatz” für mehr als vier Sprachen nötig sind. Von diesen Leuten gibt es nicht viele.

Marc-André Miserez, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser)

Der Internationale Tag der Muttersprache ist ein von der UNESCO ausgerufener Gedenktag. Er soll die sprachliche und kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit fördern.

Der Internationale Tag der Muttersprache findet jeweils am 21. Februar statt.

Die sprachliche und kulturelle Unterdrückung Ostpakistans führte 1971 zur Abspaltung und zur Gründung von Bangladesch. Der 21. Februar wird dort seitdem als Tag der Märtyrer begangen.

Auf Antrag von Bangladesch wurde dieser Tag im Jahr 2000 zum Internationalen Tag der Muttersprache ernannt.

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