Neuenburger Kirchensteuer löst sich in Rauch auf

Die Kirchen im Kanton Neuenburg stehen immer noch unter Schock, nachdem der Zigaretten-Konzern Philip Morris International entschieden hat, die freiwillige Kirchensteuer nicht mehr zu entrichten.
«Dieses Kapitel ist geschlossen; es endete traurig», sagt Gabriel Bader, Präsident des Neuenburger protestantischen Synodalrats, gegenüber swissinfo.ch.
«Ich denke nicht, dass sie korrekt gehandelt haben, doch wir müssen nun in die Zukunft schauen und unsere Partner warnen, weil nun viel weniger Geld zur Verfügung stehen wird.»
Bader nimmt damit Bezug auf den Entscheid von Philip Morris, nicht mehr jährlich 1,5 Millionen Franken freiwillige Kirchensteuer an den Kanton Neuenburg zu entrichten.
Das Unternehmen beschäftigt rund 1300 Personen im Westschweizer Kanton. Es betreibt eine Zigarettenfabrik und ein Forschungszentrum. Damit ist es der grösste Arbeitgeber im Kanton.
Fast 2 Milliarden Kirchensteuer
In der Schweiz erhalten die Kirchen der staatlich anerkannten Religionen – römisch katholische und protestantische sowie die kleineren christkatholischen und jüdischen Gemeinschaften – jährlich rund 1,9 Milliarden Franken von den Kantonen über die Kirchensteuer von Steuerpflichtigen und Firmen. Doch die Kirchensteuer kann von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich ausfallen.
Im Kanton Neuenburg erhielt die protestantische Kirche von Philip Morris 800’000 Franken, die römisch katholische Kirche 700’000 Franken und die christkatholische Kirche 20’000 Franken. Das entspricht 10% des Budgets der protestantischen respektive 15% der römisch katholischen Kirche des Kantons.
Bader bedauert den plötzlichen Entscheid, der im Oktober gemacht wurde, zumal er das Steuerjahr 2010 betrifft, für das die Kirchen ihre Ausgaben bereits getätigt haben.
«Zudem ist es gravierend, dass wir bei den Gesprächen zwischen der Neuenburger Regierung und Philip Morris nicht dabei waren», ergänzt er.
Philip Morris erklärt, der Entscheid sei auf Grund der internen, weltweit gültigen Regelungen gefallen, die «Unterstützung religiöser Aktivitäten ausschliessen». Sprecher Patrick Lagadec ergänzt, die Kirchen seien bereits Ende 2008 über das baldige Ende der Unterstützung informiert worden.
Die drei Kirchen, die zusammen 3,6 Mio. Franken in soziale Projekte investieren, erklären, die Kürzungen bedrohten das protestantische Sozialzentrum, das Hilfswerk Caritas, Bestattungsdienste und die religiöse Unterstützung in Gefängnissen und Gesundheitszentren.
Im Moment ist nicht klar, ob die lokalen Behörden den Kirchen unter die Arme greifen, um das erhebliche Finanzloch zu stopfen.
Frage des Einkommens
Die Schweizer Kirchen werden traditionellerweise von den Kantonen unterstützt, die das Geld über die Kirchensteuer von den steuerpflichtigen Personen erhalten. Seit den 1960er-Jahren werden aber auch Unternehmen zur Kasse gebeten.
«Damals wurden die Staatskirchen aufgehoben und in öffentlich-rechtliche Körperschaften überführt», erklärte René Pahud de Mortanges, Professor für Religionsrecht von der Universität Freiburg, gegenüber der Nachrichtenagentur SDA.
Für die Kirchen bedeutete dieser Schritt einen massiven Einbruch ihrer Einnahmen. «Früher haben die Staatskirchen Geld vom Kanton erhalten. Neu mussten sie sich hauptsächlich durch ihre Mitglieder finanzieren», so Pahud de Mortanges. Um dieses Defizit auszugleichen, wurde die Kirchensteuer neu auch für Unternehmen erhoben.
Mosaik
Der Schweizer Föderalismus, die weitgehende Autonomie der Kantone, hat die Kirchensteuer zu einem komplizierten Mosaik werden lassen: Die meisten Kantone erheben heute von Unternehmen eine zwingende Abgabe. Nur in den Kantonen Aargau, Appenzell Innerrhoden, Basel-Stadt, Schaffhausen und Solothurn ist dies nicht der Fall.
Eine Sonderstellung nehmen die Kantone Neuenburg und Genf ein, die eine starke säkulare Tradition haben. Dort wird die Kirchensteuer von Personen und Unternehmen lediglich auf freiwilliger Basis erhoben.
In Neuenburg ist die Anzahl der Beitragszahlenden unter den steuerpflichtigen Personen in den letzten 40 Jahren um die Hälfte zurückgegangen.
Eine Frage der Moral
Die Forscher errechneten, dass die Schweizer Landeskirchen jährlich 1,9 Mrd. Franken erhalten, wovon 1,3 Mrd. über die Kirchensteuer von Privatpersonen hereinkommen und 556 Mio. öffentliche Gelder sind.
Davon wiederum stammt rund die Hälfte, 264 Mio. Franken, aus jenen kantonalen Kirchensteuern, welche Unternehmen entrichten. Dabei spielt es kaum eine Rolle, in welchem Bereich eine Firma tätig ist.
«Wir denken, jede Firma hat auf eine Art eine Verpflichtung, etwas vom Mehrwert, den sie schafft, mit der Region zu teilen», erklärt Bader. «Philip Morris hat dies gemacht, indem sie Jobs geschaffen haben; aber sie sollten es auch über die Kirchensteuer tun.»
Doch nicht alle sehen dies so, wie beispielsweise ein Leserbrief in der Tribune de Genève von letzter Woche zeigt: «Ich bin schockiert über die Moralvorstellungen dieser Kirchen. Wie können Kirchen, die das Leben bejahen, Geld aus einer Industrie annehmen, die tödliche Produkte verkauft?», fragte sich ein Leser. «Bevor sie solches Geld annehmen, das sie diskreditiert, sollten sie ihre Moral überdenken.»
42% römisch katholisch (-7% seit 1970)
35% protestantisch (-12%)
11% keine Religion (+10%)
4,3% muslimisch (+4%)
0.2% jüdisch (-0,1%)
(Quelle: Volkszählung 2000)
Die Kirchensteuer macht rund 8% der kantonalen Steuereinnahmen aus.
Steuerzahlende entrichten ihre Steuern an Gemeinde, Kanton und Bund.
Die Kirchensteuer wird erhoben, um Kirchenausgaben zu decken und ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich hoch.
Laut einer aktuellen Studie haben die protestantischen Kirchen schweizweit weniger Mitglieder, erhalten aber mehr Geld als die römisch katholischen.
Bei den reformierten Kirchen erhalten jene in den Kantonen Waadt, Zug und Zürich am meisten, während in Aargau, Appenzell Ausserrhoden und Genf am wenigsten an diese Kirchen geht.
Bei den römisch katholischen Kirchen sind die Kantone Bern, Zug und Zürich Spitzenreiter, während Aargau, Appenzell Innerrhoden und Genf die Schlusslichter sind.
In Neuenburg arbeiten rund 800 Personen in einer Zigarettenfabrik für den Schweizer Markt und den Export, während etwa 500 in einem Forschungs- und Entwicklungszentrum beschäftigt sind.
Etwa 1700 Personen beschäftigt PMI am Hauptsitz in Lausanne.
PMI ist der grösste Arbeitgeber und Steuerzahler im Kanton Neuenburg.
Die Firma unterstützt in den Kantonen Neuenburg und Waadt verschiedene kulturelle, pädagogische und gemeinschaftliche Aktivitäten.
(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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