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Schneesterne helfen in dunklen Zeiten

Diese Buben wurden vor 60 Jahren von der Winterhilfe Schweiz neu eingekleidet. winterhilfe.ch

Die Winterhilfe feiert ihr 75-jähriges Bestehen. Gegründet wurde sie als Antwort auf die Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Trotz funktionierendem Sozialstaat habe das Hilfswerk auch heute noch seine Existenzberechtigung, sagt Zentralpräsidentin Monika Weber.

Die Geschichte der Winterhilfe ist auch eine Dokumentation der Armut in der Schweiz. Gegründet wurde das Hilfswerk am 27. August 1936, mitten in der Weltwirtschaftskrise. Und zwar für die “Unterstützung von Arbeitslosen”, wie man in der Gründungsurkunde lesen könne, sagt die ehemalige Zürcher Ständerätin gegenüber swissinfo.ch.

Sie wisse zwar nicht, ob man sagen könne, die Winterhilfe sei die Pionierin der Schweizer Hilfswerke gewesen. “Aber es war eine grosse solidarische Aktion in diesem schlimmen Winter im Jahr 1936, wo es so viele Arbeitslose gab. Viele Politiker, aber auch Leute aus der Wirtschaft sind zusammengestanden und haben gesagt, jetzt handeln wir.”

Ersatz für fehlende Sozialversicherungen

Zu einer Zeit, als es noch keine Sozialversicherungen gab – die Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung (AHV) wurde erst 1948 ins Leben gerufen, die Arbeitslosen-Versicherung (AL) folgte im Jahr 1951 – war die Hilfsaktion auf Anhieb ein Erfolg. Bei der ersten Spendensammlung kamen 1,1 Millionen Franken zusammen, im Kriegsjahr 1941 waren es gar 3,1 Mio.

“Vielen Familien blieb dank der unmittelbaren Unterstützung durch die Winterhilfe der Gang aufs Sozialamt erspart”, sagt die Zentralpräsidentin. “Und somit das Stigma, armengenössig zu sein.”

Grosse Solidarität

Die erste gesamtschweizerische Aktion war von grosser Solidarität geprägt und erfolgte mit einem Plakettenverkauf, mit Naturalien- und Geldsammlungen, wobei arbeitslose Frauen und Männer, Schüler und Schülerinnen, Pfadfinder und Jugendorganisationen mithalfen. Es gab aber auch Wohltätigkeits-Veranstaltungen von Vereinen mit Abzeichen- und Briefmarkenverkäufen. Auch die Kinos halfen mit den entsprechenden Reklamen mit.

Monika Weber erwähnt noch ein weiteres Beispiel der damals herrschenden grossen Solidarität: Anlässlich des Fussball-Länderspiels Schweiz-England und des Schweizerischen Arbeitersängerfestes in Zürich 1937/38 sei auf alle Eintrittspreise ein Zuschlag von 10 Franken zugunsten der Winterhilfe erhoben worden.

“Die Beziehungen zu Politik und Behörden waren gut. Skepsis gegenüber der Winterhilfe gab es keine. Es waren ja auch einige Nationalräte bei der Gründung der Winterhilfe dabei.”

In den Kriegsjahren habe die Winterhilfe sehr eng mit der Kriegshilfe beziehungsweise der Kriegsfürsorge zusammengearbeitet. Die Sammlung 1941, bei der für damalige Verhältnisse unvorstellbare 3,1 Mio. Franken gespendet wurden, lief unter der Bezeichnung “Kriegs-Winterhilfe”, so Weber.

Die Winterhilfe wirkte auch in späteren Jahren bedarfsorientiert. Jungen Müttern wurden Ovomaltine und Sardinen als Zusatz zur schmalen Kriegskost abgegeben, Bauern erhielten Saatkartoffeln, Milch- und Suppenküchen wurden eingerichtet, und in Kleiderstuben lernten Frauen, Kleider zu flicken oder abzuändern. Die letzte dieser Kleiderstuben wurde übrigens erst im Jahr 2000 geschlossen – in der Stadt Zürich.

Thema Armut immer noch aktuell

Heute gehe es, dank der Sozialwerke, in der Schweiz kaum mehr ums nackte Überleben, sagt Monika Weber. “Aber das Thema Armut ist immer noch aktuell. Da sind die ‘Working Poor’, die mit knapp dem Nötigsten auskommen müssen, da sind alte, kranke und einsame Menschen, denen bereits eine Zahnarztrechnung oder eine zerbrochene Brille schlaflose Nächte bescheren kann.”

Immer öfter werde aber auch eine nachhaltige Unterstützung angestrebt durch Beiträge an Weiter- oder Zusatzausbildungen. “Denn wer einem Kind oder Jugendlichen einen guten Start ermöglicht, der hilft langfristig und nachhaltig. Wer Familien in einer Notlage unterstützt, hilft mit, Weichen für eine bessere Zukunft zu stellen.”

Rund 17’000 Hilfesuchende, darunter 6000 Kinder, werden pro Jahr von der Winterhilfe unterstützt. Die durchschnittliche Hilfeleistung pro Fall beläuft sich auf ca. 1500 Franken. Die Kantonalorganisationen verteilen – inzwischen ganzjährig – unter anderem Nothilfegelder, Kleider sowie Esswaren an Bedürftige. “Heute gilt es, besonders dort den Bedürfnissen gerecht zu werden, wo die Kantone sparen müssen.”

Hinter jedem Fall ein Schicksal

Hinter jedem Fall stecke ein Schicksal, verbunden mit Scham und Angst, sagt Monika Weber. So habe ihr eine Frau geschrieben, die es vor 75 Jahren so erlebt habe und der Winterhilfe noch heute dankbar sei für die Hilfe, die ihrer Familie damals zugekommen sei:

“Armut ist sehr bitter für die Kinder. Man schämt sich. Nur ein Beispiel: Ich war 11 oder 12-jährig. Der Schulausflug hätte 5 Franken gekostet. Aber wir hatten das Geld nicht. Der Lehrer sagte dann den Schülern, sie sollen zu Hause die Eltern fragen, ob sie etwas mehr geben, damit ich auch mitkommen kann. Aber ich konnte mich nicht freuen, ich habe mich geschämt.

Nun kommen wir zur Winterhilfe. An Weihnachten stand ein grosses Paket auf dem Stubentisch. Für jedes Kind war etwas dabei. Kleider und Esswaren. Den Anblick vergesse ich nie. Darum spende ich jedes Jahr. Und zum 75-Jahr-Jubiläum überweise ich Ihnen 1000 Franken. Gut, dass es Sie gibt. Danke für Ihren Einsatz.”

Die Winterhilfe überbrückt gezielt finanzielle Notlagen, damit die Menschen in Not sich anschliessend aus eigener Kraft helfen können. Unterstützt werden Alleinstehende und Familien, alte und junge Menschen, die in der Schweiz und nahe am sozialen Existenzminimum leben.

Die Hilfe darf nicht die Leistungen der öffentlichen Hand ersetzen; sie kann diese nur gezielt ergänzen. In den meisten Fällen kommen die Sozialämter auf die Winterhilfe zu, beispielsweise bei einer Schuldentilgung, die dann zum einen Teil vom Sozialamt und zum anderen Teil von der Winterhilfe übernommen wird.

Bedürftige Leute melden sich auch direkt bei der Winterhilfe, oder das Hilfswerk kennt Fälle, denen es sich selber annimmt. Jeder einzelne Fall wird jedoch zuerst genau abgeklärt, ob er den Hilfsnormen der Winterhilfe entspricht.

Im Berichtsjahr 2009/2010 betrug die Summe der von der Winterhilfe geleisteten finanziellen Nothilfe rund 2,5 Mio. Franken. Seit seinen Anfangstagen finanziert sich das Hilfswerk ausschliesslich über private Spenden.

Dank “grosszügiger Spenden” hat die Winterhilfe über die letzten zwei Jahre 750’000 Franken angehäuft. Der Betrag kommt im Jubiläumsjahr vollumfänglich den Kantonalorganisationen zugute.

In den beiden Basler Kantonen wird zum Beispiel das Geld in Gutscheine für sozial schlecht gestellte Familien investiert. Die Bons können zum Kauf von Schulrucksäcken und Etuis verwendet werden.

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