
Dschihad-Reisende: Forderungen nach Rückführung in die Schweiz werden lauter

Was geschieht mit Schweizer Staatsangehörigen, die sich dem IS angeschlossen haben und nun im Nordosten Syriens inhaftiert sind? Menschenrechtsexpert:innen, humanitäre Organisationen und sogar die USA fordern ihre Rückführung. Die Schweiz lehnt deren Rückkehr ab.
Seit mindestens sechs Jahren sind drei Schweizer Männer ohne Gerichtsverfahren in Gefängnissen im Nordosten Syriens inhaftiert. Sie gehören zu den Zehntausenden Dschihadistinnen und Dschihadisten, die zwischen 2014 und 2019 aus Europa und anderen Teilen der Welt nach Syrien und in den Irak reisten, um sich dort der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) anzuschliessen. Eine Schweizerin und ihre achtjährige Tochter werden ebenfalls hier festgehalten: in Roj, einem von zwei Lagern für Familienangehörige ehemaliger IS-Kämpfer.
Manche Staaten, darunter der Irak und einige europäische Länder, haben inzwischen angefangen, ihre Staatsangehörigen in ihr Heimatland zurückzuführen, um sie hier vor Gericht zu stellen. Die Schweiz aber hat dies bislang abgelehnt. Sie fordert, dass diese Gefangenen in Syrien oder im Irak vor Gericht gestellt werden sollten.

Menschenrechtsexpert:innen kritisieren diese Haltung: «Diese Personen werden willkürlich festgehalten», sagt der Anwalt Kastriot Lubishtani, der an der Universität Lausanne forscht, gegenüber SWI swissinfo.ch. «Wir können diese Menschen nicht ohne Verfahren und Zugang zu einem Gericht in einer Art Guantánamo lassen.» In dem US-Gefangenenlager auf der Insel Kuba wurden nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zahlreiche Menschen ohne Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit festgehalten.
Zehntausende inhaftiert
Der Nordosten Syriens steht heute unter der Kontrolle der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), einem von Kurd:innen dominierten Kampfverband. Im Jahr 2019 eroberten die SDF, unterstützt von den USA, die letzten Gebiete, die noch unter IS-Herrschaft gestanden hatten. Sie nahmen Zehntausende Ausländer:innen und Syrer:innen gefangen, die sie verdächtigten, IS-Mitglieder zu sein. Die meisten von ihnen, wie auch ihre Familienangehörige, werden bis heute in Gefängnissen sowie den Lagern Roj und Al-Hol festgehalten.
Rund 9000 IS-Verdächtige sitzen derzeit ohne Gerichtsverfahren in Gefängnissen im Nordosten Syriens, schätzen die Vereinten NationenExterner Link: darunter 5400 Syrer:innen, 1600 Iraker:innen und 1500 Personen aus 50 anderen Ländern. Darüber hinaus werden etwa 42’500 Menschen willkürlich in den beiden Lagern al-Hol und Roj festgehalten. Es sind Angehörige von IS-Verdächtigen, aber auch Flüchtlinge, Binnenvertriebene und Opfer von Menschenhandel: 60% von ihnen sind Kinder, der Rest überwiegend Frauen.

Verantwortung vermeiden
Die irakische Regierung hat inzwischen angefangen, zusammen mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) Tausende Iraker:innen aus den Lagern zu repatriieren. Auch bei der Rückkehr von Syrer:innen, die durch den Bürgerkrieg aus ihren Heimatorten vertrieben wurden, gibt es Fortschritte. Zurück aber bleiben Staatsangehörige aus Drittländern.
«Die meisten EU-Länder wie auch andere haben die Verantwortung für ihre Staatsangehörigen an die kurdischen Behörden im Nordosten Syriens abgeschoben», sagt Matthew Cowling gegenüber SWI Swissinfo.ch. Cowling ist Koordinator für humanitäre Angelegenheiten bei der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Nordosten Syriens.

Dringende Rückführung gefordert
Lubishtani steht mit seiner Einschätzung zur prekären Menschenrechtslage in den syrischen Lagern nicht allein. Auch UN-Expert:innen und Menschenrechtsorganisationen haben wiederholt schwerwiegende Rechtsverletzungen angeprangert.
«Der politische Übergang in Syrien ist eine wertvolle Gelegenheit, die willkürliche, unmenschliche und unbegrenzte Inhaftierung von rund 52000 Menschen im Zusammenhang mit dem IS-Konflikt zu beenden», erklärten 16 unabhängige Expert:innenExterner Link des UNO-Menschenrechtsrats im April 2025.
Im Dezember 2024 eroberten bewaffnete Gruppen unter Führung von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) die syrische Hauptstadt Damaskus und stürzten den Diktator Bashar al-Assad, der im Jahr 2000 die Herrschaft von seinem Vater geerbt hatte. Das Assad-Regime hatte Syrien über fünfzig Jahre lang unter seiner Kontrolle.
«Diese Menschen werden seit mindestens sechs Jahren ohne Gerichtsverfahren unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen festgehalten», sagt Lubishtani. So sei zum Beispiel Tuberkulose weit verbreitet in den Gefängnissen. «Das verstösst gegen internationales Recht.»
MSF betreibt zwei Kliniken im grösseren Lager Al-Hol, in denen Patient:innen mit Diabetes und Bluthochdruck behandelt werden. Allerdings mangele es an spezialisierter Versorgung wie Augenheilkunde, Zahnbehandlung und Neurologie, lässt das Hilfswerk verlauten. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) betreibt ebenfalls ein Krankenhaus in Al-Hol, besucht Häftlinge in Gefängnissen und versucht, den Kontakt zwischen Familienmitgliedern zu erleichtern.
UN-Expert:innen fordern alle Länder auf, ihre Staatsangehörigen dringend zu repatriieren. Sie sollten entweder rehabilitiert und wieder in die Gesellschaft integriert oder gegebenenfalls strafrechtlich verfolgt werden. «Wir sind besorgt darüber, dass viele Länder ihre Bürger:innen im Stich gelassen oder ihnen sogar willkürlich die Staatsbürgerschaft entzogen haben.»
Auch die USA fordern inzwischen, dass die Staaten ihre Bürger:innen zurückholen. Die Hilfe der USA habe eine Schlüsselrolle gespielt bei der Verwaltung und Sicherung der beiden Lager und der Gefängnisse, sagte Dorothy SheaExterner Link, die amtierende US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen in New York, im Februar vor dem UNO-Sicherheitsrat. «Die USA haben zu lange einen zu grossen Teil dieser Last getragen. Wir fordern die Länder weiterhin auf, ihre vertriebenen und inhaftierten Staatsangehörigen in der Region rasch zurückzuführen.»

Mehr
Neues Land, alte Ängste: Wie es in Syrien weitergeht
Im Januar und Februar 2025 kürzten die USA die humanitäre Hilfe für Nordostsyrien um mindestens 117 Millionen US-Dollar (93 Millionen Franken). Im April hat das Land zudem begonnen, seine Truppenstärke in Syrien von 2000 auf zunächst 1400 zu reduzieren, berichtete die New York TimesExterner Link im April. Deren Zahl, heisst es in dem Bericht, könnte bis auf 500 gesenkt werden.
Das Einfrieren der US-Gelder hätte zur Folge, dass sich die humanitäre Lage in den Lagern verschlechtert, sagt ein Vertreter einer humanitären Organisation, der anonym bleiben möchte. Die Aufrechterhaltung der Grundversorgung wird immer schwieriger, während die kurdischen Sicherheitskräfte mit einer Bevölkerung überfordert sind, die unter dem Mangel an Lebensmitteln, Gas und Heizung im Winter leidet.
Die Schweiz bleibt unnachgiebig
Einige europäische Länder haben damit begonnen, ihre Staatsangehörigen zurückzuführen und strafrechtlich zu verfolgen – darunter Bosnien, Kosovo und Nordmazedonien. Die Niederlande und Deutschland haben zurückgekehrte Dschihadistinnen und Dschihadisten wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Zudem haben sie, wie etwa auch Norwegen, Schweden und Dänemark, Programme zur Deradikalisierung und Wiedereingliederung eingeführt.
Die Schweiz hingegen bleibt unnachgiebig. Sie repatriiert erwachsene Dschihadistinnen und Dschihadisten aus dem Ausland nicht aktiv, teilt das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf Anfrage von SWI swissinfo.ch mit. Das bedeutet beispielsweise, dass sie deren Rückführung nicht durch die Ausstellung eines Reisepasses unterstützt. Der entsprechende EntscheidExterner Link dazu des Eidgenössischen Justizdepartements vom März 2019 bleibe weiterhin gültig.
Allerdings gewähre das EDA den Betroffenen «im Rahmen des Möglichen und unter Berücksichtigung der Situation seit Bekanntwerden ihrer Inhaftierung» konsularischen Schutz. Ein Rechtsanspruch auf darauf bestehe allerdings nicht, heisst es seitens des Amts, ausser in Fällen, in denen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit einer Person gefährdet ist.
Dafür stehe das EDA in Kontakt mit den inhaftierten Schweizer Staatsangehörigen sowie den kurdischen Behörden. Es habe kürzlich einen konsularischen Besuch im Lager Roj durchgeführt, wo die Schweizerin und ihre Tochter festgehalten werden. Ausserdem habe es virtuell Kontakt zu den drei inhaftierten Männern aufgenommen.
Bern hatte zuvor angeboten, nur die Tochter der Frau zurückzuführen. Dies hatte die Mutter jedoch abgelehnt. Das IKRK und UN-Gremien wiederum haben wiederholt betont, dass Kinder nicht von ihren Müttern getrennt werden sollten. «Die Staaten müssen Kinder dringend zusammen mit ihren Müttern zurückführen», forderten UN-Expert:innen bereits 2023.
Alle Kinder in dieser Konfliktzone hätten Schutz verdient, sagten sie. Diese Kinder seien Opfer von Terrorismus und schweren Menschenrechtsverletzungen. In den Lagern mangele es ihnen selbst an der Versorgung grundlegender Bedürfnisse wie medizinischer Versorgung, Nahrung, sauberem Wasser und Bildung.

Anwalt Lubishtani verweist auf die Verpflichtungen der Schweiz aufgrund der UN-Kinderrechtskonvention: Demnach müsste sie Kinder zusammen mit ihren Müttern zurückführen, um das Wohlergehen der Kinder zu gewährleisten. Doch stattdessen habe sie innenpolitische Interessen über das Wohl der Kinder gestellt, so Lubishtani.
Im Jahr 2019 begründete das Justizministerium die Entscheidung, Personen, die in das IS-Kalifat gereist waren, nicht aktiv zurückzuführen, mit der Sicherheit der Schweizer Bevölkerung. Einige Schweizer Politiker:innen argumentierten, dass diese freiwillig in die Gebiete eingereist seien und sich ebenfalls freiwillig einer terroristischen Organisation angeschlossen hätten.
Dabei stehe ausser Frage, dass die Schweiz ihre Staatsangehörigen letztendlich zurückholen muss, so Lubishtani. Ehemalige IS-Kämpfer haben das Recht auf eine individuelle Beurteilung ihrer Situation, befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Das Schweizer Bundesgericht bestätigte dieses Urteil vergangenen Dezember. Diese Personen haben auch Anspruch auf Schutz nach dem humanitären Völkerrecht, das Länder zur Rückführung ihrer Staatsangehörigen verpflichtet.
Es sei unklar, wie sich die Sicherheitslage unter der neuen syrischen Regierung unter de-facto-Präsident Ahmad al-Sharaa entwickeln und wie sich die Zusammenarbeit zwischen Damaskus und der kurdischen Selbstverwaltung gestalten werde, sagt Lubishtani. Ehemalige IS-Kämpfer sollten daher so schnell wie möglich in einem kontrollierten Rahmen repatriiert werden, anstatt zu riskieren, dass sie spurlos verschwinden.
Zurück in der Schweiz würden sie zunächst inhaftiert, so Lubishtani. Wenn keine Kriegsverbrechen nachgewiesen werden können, würden sie zumindest wegen der Beteiligung an einer kriminellen terroristischen Vereinigung verurteilt. Zum Zeitpunkt der Straftaten bedeutete dies fünf Jahre Gefängnis.
Editiert von Virginie Mangin/dos, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel

Mehr
Unser Newsletter zur Aussenpolitik

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch