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Heimatort ist, wo das Herz ist

Keystone

Wenn man einen Schweizer Pass aufschlägt, findet man anstelle des sonst üblichen Geburtsortes den "Heimatort". Es ist jener Ort, aus dem die Vorfahren stammen – und oft auch der Name. Für viele Leute bleibt der Heimatort wichtig, auch wenn das System an Bedeutung verloren hat.

Schweizerinnen und Schweizer erhalten ihren Heimatort im Normalfall durch ihren Vater. Das Dorf oder die Stadt bewahrt die Urkunden über die Herkunft der Familie auf, auch von Bürgerinnen und Bürgern, die nicht dort leben, und führt die Register mit den Angaben über Geburten, Heiraten und Todesfälle, wie sie früher in den Kirchenregistern erfasst wurden.

Viele Schweizerinnen und Schweizer bleiben diesen Wurzeln emotional verbunden, vor allem solche, die im Ausland leben.

“Viele Leute aus meiner Umgebung sind in die Schweiz zurückgekehrt, um ihre Wurzeln zu finden”, erklärt Beth Zurbuchen, Präsidentin des Swiss Center of North America in New Glarus.

“Ich selber hatte die Gelegenheit, den Hof meines Grossvaters mütterlicherseits zu erkunden, sowie das Heim meines Urgrossvaters väterlicherseits in Habkern. Das Wissen, dass ich, egal wie weit entfernt auch, Familie habe, ging mir ans Herz und rührte mich zu Tränen.”

Nachdem das Schweizer Parlament Ende 2012 entschied, dass die Heimatorte (Bürgergemeinden) sich nicht mehr länger an Fürsorge-Leistungen für ihre Bürgerinnen und Bürger in Not beteiligen müssen, sind sie nur noch für das Führen der Register zuständig. Das System der Heimatorte hat über die Jahre derart an praktischer Bedeutung verloren, dass sie nicht einmal mehr für die Volkszählung erfasst werden.

Theoretisch haben Schweizerinnen und Schweizer nur einen Heimatort, doch in der Praxis äussern sich viele nicht so klar, wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt werden. “Ich gebe immer meinen Heimatort an, wenn man mich fragt, wo aus der Schweiz ich herkomme”, erklärt Katharina Allen, die in Perth, Kanada, lebt. “Meine Schwester hingegen gibt ihren Geburtsort an, den Ort, wo sie für kurze Zeit lebte, bevor sie als Kind nach Kanada kam.”

Heimatort (Bürgerort) und Bürgerrecht hängen nicht davon ab, wo eine Person lebt, sondern von der Geschichte ihrer Familie.

Die Einwohnergemeinde ist hingegen eine politische, territoriale Einheit mit ihrer Wohnbevölkerung.

Nach Schweizer Zivilrecht ist das Bürgerrecht einer Person mit deren Heimatort verbunden und ist in erster Linie Gemeindebürgerrecht. Dazu kommen dann das Kantons- und das Staatsbürgerrecht.

Das Bürgerrecht wird durch Geburt oder Heirat erworben. Bei einer Heirat übernimmt die Frau den Heimatort des Mannes, aber sie kann ihren Heimatort auch behalten. Kinder erhalten den Heimatort des Vaters.

Schweizer Bürger und Bürgerinnen müssen den Heimatort auf fast allen offiziellen Dokumenten wie Pässen und Identitätskarten angeben. Wer mehr als einen Heimatort hat (was möglich ist), muss sich entscheiden, welcher in Pass oder Identitätskarte eingetragen wird.

In der früheren Eidgenossenschaft erhielten Bürgerliche etwa ab Mitte des 18. Jahrhunderts einen Heimatort, normalerweise den Wohnsitz des Familienoberhaupts. Die Heimatgemeinde hatte die Pflicht, ein Register mit den Aufzeichnungen über die Familien ihrer Bürger zu führen. Dies waren die Vorgänger der heutigen Zivilstandsämter.

Andere Länder kennen das Konzept des Heimatortes nicht. Ihre Bürger und Bürgerinnen haben die nationale Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes, sie sind nicht gleichzeitig noch Bürger einer Gemeinde oder eines Kantons oder Bezirks. In diesen Staaten hat der Geburtsort grössere Bedeutung und wird daher in offiziellen Dokumenten aufgeführt.

Familienverbindungen

 

2001 hatte das Schweizer Parlament bisher zum letzten Mal darüber debattiert, zur Identifizierung einer Person den Heimatort durch den Geburtsort zu ersetzen. Schliesslich wurde entschieden, beim Status quo zu bleiben, weil der Geburtsort zu beliebig sei, wie etwa Walter Glur von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) argumentiert: “Die Geburt könnte irgendwo geschehen”, das Blut, das in den Adern fliesse, sei aber immer das Blut der Familie. Viele Schweizer teilen diese Meinung.

“Mein Geburtsort hat für mich keine Bedeutung: Meine Mutter war an dem Tag zufällig in Zürich”, erklärt Jack Gruring aus Biel, der heute in Kroatien lebt. “Für mich ist wichtig, wo ich aufgewachsen bin. Und mein Heimatort ist sehr bedeutend, denn er bewahrt die Geschichte meiner Familie”, schreibt er auf der Social-Media-Website swisscommunity.org.

Viele Schweizer können ihren Familiennamen auf ihren Heimatort zurückführen. Das Register der Schweizer Familiennamen, das vom Historischen Lexikon der Schweiz betrieben wird, ermöglicht den Zugang zu über 48’000 Namenseinträgen, die Hunderte von Jahren zurückgehen. Die Chevrolets stammen aus ein paar Siedlungen im Kanton Jura, die Caillers von den Ufern des Genfersees.

“Ich bin meinem Herkunftsort sehr verbunden, weil alle meine Vorfahren auf dem kleinen Friedhof in meinem Heimatort Cadro begraben sind. Im täglichen Leben treffe ich nie jemanden mit meinem Familiennamen”, sagte Manuelle Merenda, die in Aix-en-Provence lebt. “Ich war überrascht, dass etwa die Hälfte aller Grabsteine auf diesem Friedhof den Namen Merenda oder Ferrari trugen.”

Alle Zurbuchens kommen ursprünglich aus Habkern im Kanton Bern, einer mehr als 700 Jahre alten Gemeinde mit einer Bevölkerung von heute etwa 640 Personen. Andreas Zurbuchen, der Dorfschreiber, kann seine Familie auf Peter zurückführen, den Stammvater der ganzen Sippe, der zwischen 1470 und 1535 auf einem Stück Land mit dem Namen zer Buchen lebte.

Im 16. Jahrhundert verliess ein Teil der Schweizer Emigranten das Land, um religiöser Verfolgung zu entkommen. Als die Unterdrückung der protestantischen Anabaptisten sich weiter ausbreitete, wanderten deren Anhänger – die ursprünglich auch aus anderen Ländern in die Schweiz gekommen waren – nach Amerika aus, wo sie die Gemeinden der Amischen und der Mennoniten gründeten.

Während etwa 450 Jahren war das Söldnerwesen der wichtigste Export der Schweiz. Zwischen 1400 und 1848 waren schätzungsweise mehr als zwei Millionen Söldner für fremde Mächte im Einsatz gestanden. Später liessen sich Schweizer Emigranten im Ausland als Kaufleute, Missionare, Handwerker und Bauern nieder.

Der erste Wein in den USA wurde Ende des 18. Jahrhunderts von John James Dufour aus Vevey gemacht, lange bevor sich Donald Hess in Kalifornien im Weinanbau engagierte. Und im 19. Jahrhundert machten sich Schokoladenhersteller aus der Schweiz in Deutschland, Russland und Skandinavien einen Namen.

Der in La Chaux-de-Fonds geborene Louis Chevrolet stand am Anfang eines Autoimperiums, die Guggenheim-Familie jüdisch-schweizerischer Abstammung veränderte die Art, wie wir moderne Kunst betrachten, und Othmar Amman, der in Schaffhausen geborene Ingenieur, entwarf sechs der Brücken New Yorks.

Zu den Emigrantinnen und Emigranten jüngerer Zeit gehörten die Psychiaterin und Sterbensforscherin Elisabeth Kübler-Ross und Adolph Rickenbacher, der Erfinder der elektrischen Gitarre.

Ende 2012 waren nach Angaben des Aussenministeriums knapp 716’000 – mehr als ein Zehntel aller Schweizer Staatsangehörigen – im Ausland registriert. Etwas über 60% darunter lebten in Europa (wovon mehr als ein Drittel in Frankreich), knapp 25% in Nord- und Südamerika.

Zurück zu den Wurzeln

Zivilstandsregister, kantonale Archive und Kirchenarchive sind die wichtigsten Stellen für Ahnenforschung über ganze Sippen. Und weil die Schweiz lange von schweren Kriegen verschont geblieben ist, sind viele dieser Unterlagen ziemlich komplett und gehen teilweise weiter zurück als ins 15. Jahrhundert.

“Obschon ich keine persönliche Affinität zu meinem Heimatort habe, ist er aus geschichtlicher Perspektive betrachtet wichtig”, sagt Roland Isler, der in Melbourne lebt. “Dort werden die Unterlagen über meine Familie aufbewahrt, unabhängig davon, wo ich und meine erweiterte Familie leben oder gelebt haben. Wenn ich je die Geschichte meiner Familie erforschen will, weiss ich, wo ich hingehen muss.”

Viele Schweizerinnen und Schweizer, die im letzten Jahrhundert ausgewandert sind, sind immer noch stolz, zur alteingesessenen Oberschicht ihres Heimatorts gehört zu haben. Silverio Petrini zog vor 44 Jahren von Comano nach Venezuela. “Wir sind eine der Patrizierfamilien aus Comano”, erklärt er. “Für mich hat mein Heimatort viel Bedeutung. Dort sind meine Wurzeln, meine Eltern sind dort begraben.”

Die bürgerlichen Rechte waren nie kostenlos zu haben. Von Anfang an konnten Bürger vom Herrscher einberufen werden, um das Land zu verteidigen; jeder neue Bürger musste sich in früheren Zeiten in der Gemeinde einkaufen. Im Gegenzug für die Wehrpflicht musste der Heimatort (Bürgerort) bis jüngst auch Sozialhilfe leisten für seine Bürger und Bürgerinnen, wenn diese verarmten.

Wegen der finanziellen Belastung vor allem für kleine ländliche Gemeinden, die oft mehr Bürger haben als Einwohner, wurde diese Sozialpflicht nun aufgehoben. Die Verpflichtung, verarmte Bürger unterstützen zu müssen, war auch im 19. Jahrhundert eine Belastung für die oft knappen Budgets der Gemeinden. Etliche wurden darum ihre Armen los, indem sie ihnen gegen den Verzicht auf das Bürgerrecht eine Überquerung des Atlantik finanzierten.

Viele nahmen dieses Angebot an und liessen sich in grösseren Städten in Nord- und Südamerika nieder oder gründeten ländliche Gemeinden wie Highland, Gruetli oder Bernstadt. Nach Angaben des Swiss Center for North America leben in den USA und Kanada heute mehr als 1,3 Millionen Menschen mit Schweizer Abstammung.

Viele der rund 400’000 Schweizerinnen und Schweizer, die zwischen 1850 und 1914 auswanderten, gründeten Kolonien, die sie – als Zeugnis der Verbundenheit mit ihren Wurzeln – nach ihrer Herkunft benannten. So findet man in den USA 26 Bern und 16 Luzern.

Zurbuchen erklärt, sie fühle sich glücklich, dass sie Schweizer Wurzeln habe, die sie tatsächlich besuchen konnte. “Als ich genau an jener Stelle stand, an der meine Vorfahren entschieden hatten, die Schweiz zu verlassen, damit die Familie weiter leben konnte, hatte ich ein äusserst persönliches Gefühl, dass dies der Ort ist, wo ich hingehöre.”

Für Ben Roethlisberger, den Quarterback der Pittsburgh Steelers, dessen Familie vor vier Generationen aus dem Emmental ausgewandert war, war es einfach gewesen, seine Wurzeln aufzuspüren.

Vor 1800 hatten die Roethlisbergers alle in einer Handvoll Weilern um Langnau herum gelebt, wie aus dem Register der Nachnamen ersichtlich wird.

Mit Hilfe von Swiss Roots, einem Programm der Schweiz, das später in das Swiss Center of North America überführt wurde, entdeckte der Football-Star aus den USA 2006 seine Wurzeln in Lauperswil.

Er traf dort Verwandte, die heute in der Nähe des Bauernhofs seiner Familie leben, kostete den lokalen Käse und versuchte sich im Hornussen. Und wie es der Zufall will: Der ländliche Volkssport wurde erstmals 1625 in seinem Heimatort erwähnt.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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