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Spurlos verschwunden

Entscheidend für das Auffinden einer vermissten Person sind die ersten 24 bis 48 Stunden. Keystone

Sie gehen ohne Warnung und lassen Familie und Freunde in Angst zurück. Jedes Jahr verschwinden in der Schweiz rund 5000 Personen. Um die Suche zu verbessern, hat die Stiftung SwissMissing ein Netzwerk geschaffen und eine freiwillige Hundetruppe rekrutiert.

“Der schlimmste Monat des Jahres ist der August”, sagt Ivan Schmidt, Präsident von SwissMissing.

“Weil es heiss ist, überdenken die Leute ihren Entscheid, abzuhauen, nicht ein zweites Mal – man findet überall Gelegenheiten, im Freien zu schlafen.”

Die Motive einer Person, zu verschwinden, sind vielfältig: “Wir finden sie in allen Altersklassen, meistens sind es Menschen mit mentalen, gesundheitlichen oder sozialen Problemen, beispielsweise im familiären Bereich”, so Schmidt.

Die Anzahl Entführungen und Verschleppungen – wie etwa im Fall der beiden immer noch vermissten Zwillingsmädchen Alessia und Livia, die von ihrem Vater kurz vor dessen Suizid entführt wurden und von denen immer noch jede Spur fehlt – ist laut Schmidt sehr tief: “Es sind rund 100 Fälle pro Jahr.”

Suche per Facebook und SMS

Die 2007 gegründete Stiftung SwissMissing sammelt, verarbeitet und veröffentlicht Informationen über vermisste Personen und koordiniert die Suchaktionen. Auf die Idee eines Netzwerks kam Schmidt auf Grund seiner eigenen Erlebnisse.

“Ich bin mit einer Person befreundet, deren Kind verschwunden ist. Als ich meine Hilfe angeboten habe, stellte ich fest, dass es einige Lücken in den Suchprozessen gab, besonders, was die Koordination der verschiedenen Einrichtungen betraf, die sich um das Schicksal vermisster Personen kümmerten.”

Die Website des Bundesamts für Polizei beispielsweise, wo vermisste Personen gesucht werden, wird laut Schmidt nicht immer aktualisiert. “Nicht, dass es am Willen fehlte “, präzisiert er, “sondern weil die Veröffentlichung auf seiner Website der Zustimmung des entsprechenden Kantons bedarf”. Eine Genehmigung, die oft auch auf Drängen der betroffenen Familien nicht erteilt wird.

Zusätzlich zu all den Informationen, die SwissMissing sammelt – “99 Prozent der Schweizer Polizeieinheiten schicken uns Todesmeldungen” – nutzt die Stiftung verschiedene Systeme, um die Suche zu verfeinern, von SMS bis zu sozialen Netzwerken.

“Wir haben in Facebook und anderen internationalen Plattformen ein Netzwerk erstellt, über das wir innert kürzester Zeit Zehntausende erreichen können”, so Schmidt.

Suchhunde

Seit Ende 2010 hat SwissMissing eine noch aktivere Rolle bei der Suche nach vermissten Personen übernommen: In einer nationalen Kampagne rief die Organisation Hundebesitzer auf, ihre Tiere im so genannten “Mantrailing” zu trainieren.

Bei dieser Technik geht es darum, die Duftspur einer Person zu finden, indem den Hunden Kleidungsstücke oder sonstige Objekte der gesuchten Person unter die Nase gehalten werden.

“Wir verfügen über rund 30 Freiwillige”, sagt Schmidt. “Wir haben beispielsweise bei der Suche nach den vermissten Zwillingen in Confignon bei Genf mitgeholfen.”

Sie seien keine Detektive, präzisiert der Präsident von SwissMissing. “Wir werden nur auf Antrag der Polizei oder von Familienmitgliedern aktiv. Aber auch in letzterem Fall informieren wir immer die Ordnungskräfte.”

Die Arbeit von SwissMissing könne für betroffene Familien eine wichtige Rolle spielen, bestätigt ein Polizeisprecher des Kantons Waadt: “Wir machen unsere Arbeit, doch die Erwartungen (der Familien) sind jeweils so hoch, dass wir nicht alle erfüllen können”, sagt Jean-Christophe Sauterel gegenüber swissinfo.ch.

Die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und der Stiftung, die ihren Sitz im Kanton Tessin hat, basiere auf der Wahrung der Vertraulichkeit, fügt Sauterel hinzu.

Lieber eine Leiche…

Laut Statistiken der Polizei verschwinden in der Schweiz jedes Jahr rund 5000 Personen. “80 Prozent von ihnen werden gefunden oder kehren freiwillig nach Hause zurück”, so Schmidt. “Entscheidend sind die ersten 24 bis 48 Stunden.”

Eine Suche kann sich über Monate oder gar über Jahre erstrecken. Auf dem gemeinsamen Portal der Kantonspolizeien zur Suche von Vermissten findet sich eine 16-jährige Jugendliche aus dem Kanton Waadt. Seit 1976 hat man nichts mehr von ihr gehört.

Es sei schwierig, sich emotional nicht in die verschiedenen Fälle hineinziehen zu lassen, sagt Ivan Schmidt, “vor allem, wenn es Minderjährige betrifft”.

Zu den schmerzlichsten Fällen gehört jener der 5-jährigen Ylenia, die im Sommer 2007 in Appenzell verschleppt wurde. Ihre Leiche fand die Polizei eineinhalb Monate später in einem Wald im Kanton St. Gallen.

“Es tönt vielleicht hart, aber für Familien, die bereits mit dem Schlimmsten rechnen müssen, ist es oft besser, wenn der Leichnam gefunden wird, als dass man in Unsicherheit weiterleben muss. Nichts zu wissen, ist unerträglich.”

Die Personensuche liegt in der Schweiz in der Verantwortung der kantonalen und kommunalen Polizeikräfte.

Die Polizei veröffentlicht eine Vermisstmeldung nur in dringenden Fällen (Minderjährige, Verdacht auf Verbrechen oder Unfall) oder wenn Suizidgefahr besteht.

Bei Personen, die aus persönlichen oder administrativen Gründen gesucht werden, geht die Polizei nicht an die Öffentlichkeit. Für solche Fälle existiert eine besondere Sucheinheit innerhalb des Bundesamts für Polizei (Fedpol), die Familien hilft, deren Angehörige schon seit längerer Zeit vermisst werden.

Seit dem 1. Januar 2010 ist ein nationales Alarmsystem für Kindsentführungen in Kraft. Seit Februar können solche Suchmeldungen auch per SMS abonniert werden.

Einer der mysteriösesten Fälle betrifft den Schweizer Urwald-Aktivisten Bruno Manser.

Der Basler war bekannt geworden für seinen Einsatz für den Regenwald und die indigene Bevölkerung im malaiischen Bundesstaat Sarawak auf der indonesischen Insel Borneo.

Von 1984 bis 1990 lebte er mit dem Volk der Penan, einer der letzten Gemeinden der Welt, die ein Leben in den unberührten Urwäldern führte.

Sein Kampf gegen die Ausbeutung der Wälder weckte den Zorn der Tropenholz-Industrie und der Regierung von Sarawak.

Seit 2000 ist er verschollen; zahlreiche Suchaktionen blieben erfolglos.

Im März 2005 erklärte das Basler Zivilgericht Manser als verstorben.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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