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Irene Weber Henking: “Heute ist die Universität stolz auf uns”

Irene Weber Henking lehrt an der Universität Lausanne Übersetzungswissenschaft. (Archiv) Keystone/ANTHONY ANEX sda-ats

(Keystone-SDA) Als Professorin für Übersetzungswissenschaft und Leiterin des renommierten Zentrums für literarische Übersetzungen verhilft die Germanistin Irene Weber Henking der Universität Lausanne über die akademische Welt hinaus zu lokaler und internationaler Präsenz.

Dienstagabend, Cinéma Bellevaux, Lausanne: Der Autor Lukas Bärfuss und sein Übersetzer Lionel Felchlin präsentieren die französische Übersetzung des Romans “Koala”.

Den Abend hat das “Centre de traduction de Lausanne” (CTL) organisiert, in Zusammenarbeit mit dem Verein Tulalu?!, lies: “tu l’as lu?!”. Dank der Lesung kann das Publikum die Übersetzung mit dem Original vergleichen. “Bärfuss ist der Star des Abends”, sagt die Übersetzerin Camille Luscher, “aber uns geht es vor allem darum, auch den Übersetzer und seine Arbeit sicht- und hörbar zu machen.”

Sie ist Mitorganisatorin des Abends, Beauftragte des CTL für Strategie und Organisation. Ihre Chefin, Irene Weber Henking, muss die Veranstaltung früher verlassen, Richtung Bahnhof. Sie holt Jörn Cambreleng ab, Leiter des “Collège international des traducteurs littéraires” in Arles. Er wird anderntags ihren Germanistikstudierenden im zweiten Studienjahr sein Tätigkeitsfeld vorstellen.

Ein Aushängeschild der Uni

Der Sprung zwischen Veranstaltungen in der Stadt und jenen an der Uni, zwischen Praxis und Theorie, zwischen verschiedenen Sprachen und Literaturen gehört für Weber Henking zum Alltag. Die Germanistin ist Professorin für Übersetzungswissenschaften in der Section d’allemand der Universität Lausanne und Leiterin des CTL.

Als Professorin macht sie die Germanistikstudierenden ihrer Uni mit der Theorie und Praxis des literarischen Übersetzens vertraut, als CTL-Leiterin organisiert sie mit Camile Luscher zusammen regelmässige Veranstaltungen zum Übersetzen in der Stadt, aber auch an literarischen Grossanlässen wie den Literaturtagen in Solothurn oder dem Festival “Livre sur les quais” in Morges.

Hinzu kommt die internationale Vernetzung, zum Beispiel mit den Partnerinstitutionen in Arles oder im nordrhein-westfälischen Straelen. Und schliesslich publiziert das CTL alljährlich mindestens zwei Bücher mit und zu Übersetzungen.

Dafür genügt eine Vollzeitstelle längst nicht mehr. Der CTL-Leiterin stehen als Mitarbeiterin Camille Luscher zur Seite, der Professorin die Assistentin Stéfanie Brändly und die Assistenzprofessorin Angela Sanmann.

Die Assistenzprofessur wurde 2015 möglich, weil die Uni Lausanne das CTL und die Übersetzungswissenschaften der Section d’allemand als “pôle d’excellence” anerkannte, als eines ihrer Aushängeschilder. Zu Recht: Durch kaum eine Abteilung ist diese Universität so regelmässig in der Stadt und darüber hinaus präsent wie durch das CTL mit seinen mindestens sechs öffentlichen Veranstaltungen pro Semester.

Die Hälfte des Lesens

“Heute ist die Universität stolz auf uns”, sagt Weber Henking, “aber das war nicht immer so.” Als sie 1999 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Übersetzungswissenschaften berufen wurde, sagte ihr der damalige Dekan: “Sie erwarten doch nicht, dass wir jetzt Übersetzungen lesen.”

Eben diese Verkennung des literarischen Übersetzens zu überwinden, ist eines der Ziele des CTL. Leserinnen und Leser, ob an der Uni oder sonst wo, sollen merken, dass sie alle, von klein auf, immer schon Übersetzungen lesen, und sie sollen diese Tatsache so kritisch reflektieren wie ihren sonstigen Zugang zu Texten.

Nun ist die Übersetzungswissenschaft seit 1999 fester Bestandteil des Germanistik-Curriculums – ein Alleinstellungsmerkmal der Uni Lausanne. Alle Deutschstudierenden werden im Bachelor mit dem literarischen Übersetzen konfrontiert und, wer will, kann es dann in einem Spezialprogramm auf Masterstufe praktisch erproben.

Diese Möglichkeit steht auch den Studierenden anderer Philologien offen. Als Highlight in diesem Spezialprogramm nennt ein Masterstudent das Mentorat mit der Übersetzerin Ursula Gaillard, und eine ehemalige Masterstudentin erinnert sich immer noch an den Vortrag von Judith Butler “Is gender (un)translatable?”

Stéfanie Brändly, die an einer Dissertation über die Editionsgeschichte französischer Übersetzungen in der Romandie arbeitet, hat dank der Übersetzungswissenschaft die grössere Vieldeutigkeit literarischer Texte entdeckt. “Man wird bescheidener beim Interpretieren”, meint sie heute.

In der Forschung wurde die Lausanner Germanistik mit Weber Henkings Dissertation und dem Standardwerk zur literarischen Übersetzung von Peter Utz, “Anders gesagt – autrement dit – in other words”, zur Mitbegründerin eines neuen Textverständnisses: “Zwar ist uns Literaturwissenschaftlern der Griff zum Original lieber und vertrauter”, schreibt Utz in seinem jüngsten Buch zu französischen und englischen Übersetzungen von Hölderlins “Hälfte des Lebens”. “Doch diesem Original vermögen die Übersetzungen ihr anderes, eigenes Erkenntnisvergnügen hinzuzufügen, selbst wenn es uns nur die Hälfte des Lesens bedeutet.”

Zur Öffnung des Blicks auf die andere Hälfte des Lesens habe ihn schon früh der grosse Übersetzer Gilbert Musy veranlasst, sagt Utz. Musy, früh verstorbener Vorkämpfer für die soziale und ökonomische Besserstellung der literarischen Übersetzerinnen und Übersetzer, rief 1985 zusammen mit dem Altgermanisten Walter Lenschen den “Prix lémanique de la traduction” für deutsch-französische und französisch-deutsche Übersetzungen ins Leben.

Das damit verbundene internationale Kolloquium zum literarischen Übersetzen habe ihn auf die Idee gebracht, solche Treffen regelmässig durchzuführen, sagt der seit 1999 emeritierte Lenschen.

Dass er 1989 das CTL begründen konnte, sei Paul-René Martin, dem damaligen Stadtpräsidenten von Lausanne, zu verdanken. “Ohne seine Bereitschaft zur Finanzierung des CTL hätte die Universität nicht mitgemacht”, sagt Lenschen.

Die Uni entlastete Lenschen für die Leitung des CTL mit nur einer Wochenlektion. Die zahlreichen Publikationen der “Travaux du centre de traduction littéraire” zeugen von mannigfaltigen unbezahlten Tätigkeiten Lenschens und seiner Frau Hanna.

Zwischen Praxis und Theorie

Für die regelmässig eingeladenen Übersetzerinnen und Übersetzer war der Austausch mit der akademischen Reflexion über ihr Tun eine grosse Bereicherung. “Was während dieses Austauschs geschah, war eine Art Dialog an der Grenze zwischen Praxis und Theorie”, sagt Yla von Dach, die Lenschen 1989 aus Paris holte, um neben dem französischsprachigen Musy auch eine deutschsprachige Übersetzerin am CTL zu haben. “Was bleibt, ist eine geglückte Mischung aus Menschlichkeit und Wissensaustausch, die nicht nur mir, sondern wohl allen Beteiligten eine Entfaltung erlaubten, die nicht möglich ist, wenn das eine oder das andere Element zu stark vorherrscht oder gar fehlt.”

So haben sich Theorie und Praxis wechselseitig befruchtet und das internationale Echo des CTL war 1999 bei der Emeritierung Lenschens so gross, dass die Universität bereit war, eine halbe Professur für Übersetzungswissenschaft und die Leitung des CTL einzurichten. Mit dem weiteren Ausbau des Fachs und des CTL haben inzwischen schon mehrere Studierende den Sprung in die Praxis des literarischen Übersetzens geschafft. Und die Universität Lausanne wurde zur Vorreiterin der heute europaweit zu beobachtenden Öffnung der Nationalphilologien in Richtung Übersetzungswissenschaft.

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