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Knappes Ja hält den Druck auf die IV aufrecht

Wiedereingliederung in das Erwerbsleben - eines der grossen Themen der kommenden 6. IV-Revision. Keystone

Mit 54,4% Ja-Stimmen ein relativ komfortables Volksmehr und mit 12 von 23 Kantonen ein äusserst knappes Ständemehr: Die Zustimmung zur IV-Zusatzfinanzierung verschafft dem hoch verschuldeten Sozialwerk etwas Luft. Der massive Spardruck bleibt jedoch weiter bestehen. Analyse.

Am 1. Januar 2011 wird die Mehrwertsteuer in der Schweiz um 0,4 Prozentpunkte angehoben. Damit sollen während sieben Jahren jährlich 1,1 Mrd. Franken in die Kasse der Invalidenversicherung (IV) fliessen. Das Sozialwerk hat in den vergangenen Jahren jährlich 1,4 Milliarden Defizit geschrieben und wird am 1. Januar 2011 einen Schuldenberg von 15 Milliarden aufweisen.

Damit ist klar: Mit der am Wochenende an der Urne gutgeheissenen Zusatzfinanzierung lassen sich im besten Fall weitere Defizite verhindern. Der bestehende Schuldenberg aber bleibt.

Vor diesem Hintergrund waren sich Gegner und Befürworter der Vorlage nach dem knappen Ja einig darüber, dass der Spardruck auf die IV weiterhin massiv bleiben wird. Befürworter zeigen sich zwar erleichtert, sind sich aber auch bewusst darüber, dass weitere Finanzspritzen nunmehr keine Option mehr sind.

Emotionale Kampagne der Gegner

In den Augen der Gegner haben weite Teile der Bevölkerung ihre Unzufriedenheit über den Zustand der IV ausgedrückt. Deshalb müssten Missbräuche nun konsequent bekämpft werden. Beide Seiten bezeichnen die Mehrwertsteuererhöhung als “bittere Pille”.

Das Ja kam auch dank der Unterstützung der grossen Wirtschaftsverbände zustande. Für die Wirtschaft war eine Erhöhung der Mehrwertsteuer das kleinere Übel als die drohende Finanzierung über Lohnprozente. Die von den Gegnern der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) auf der Missbrauchs-Schiene geführte Kampagne hat vor allem in ländlichen Kantonen und in der Ostschweiz zu Nein-Mehrheiten geführt. Die grossen Städte und die lateinische Schweiz stimmten hingegen Ja.

Am deutlichsten Ja sagte der Kanton Genf mit fast 66%. Basel-Stadt liegt als erster Deutschschweizer Kanton mit 62,7% Ja-Stimmen auf Rang fünf. Am meisten Nein-Stimmen gab es mit 64,3% im ländlichen Appenzell Innerhoden.

Wie geht es nach 2018 weiter?

Die Frage stellt sich bereits heute, wie es nach 2018 weitergeht, dann nämlich, wenn die jetzt beschlossene und zur 5. IV-Revision gehörendende Erhöhung der Mehrwertsteuer wegfällt.

Die 6. IV-Revision ist bereits in der Pipeline. In einem ersten Schritt will der Bundesrat rund 12’500 IV-Rentner wieder ins Erwerbsleben integrieren.

Mit weiteren Schritten sollen ab 2018 jährlich 1,1 Mrd. Franken eingespart werden. Die Diskussion darüber, wo und wie gespart werden muss, hat noch nicht begonnen, konkrete Vorschläge liegen noch keine auf dem Tisch. Klar ist zudem, dass selbst eine rigorose Ausmerzung der Missbräuche bei weitem nicht reichen würde, um die IV nachhaltig zu sanieren. Harte politische Auseinandersetzungen sind also programmiert.

Vieles ist noch unklar

Die Konturen des Verteilkampfes zeichnen sich anhand der Reaktionen am Abstimmungssonntag lediglich vage ab. So sieht sich der Wirtschaftsdachverband economiesuisse jetzt legitimiert, “zumutbare Korrekturen” bei den Leistungen der IV zu verlangen. Der Gewerbeverband fordert vor allem eine “konsequente Bekämpfung” des Missbrauchs.

Die Gewerkschaften verlangen, dass mit der 6. IV-Revision Unternehmen dazu verpflichtet werden, genügend Jobs für Behinderte bereit zu stellen. Rentenkürzungen wollen die Gewerkschaften bekämpfen. Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren bemängelt, dass bereits die 5. IV-Revision, die eine Wiedereingliederung vorsieht, wegen mangelnden Arbeitsplätzen nicht umgesetzt werden könne.

Der Schweizerische Gewerbeverband hält dem entgegen, dass die kleinen und mittleren Betriebe im Gegensatz zu den Grossunternehmen heute schon behinderte Menschen beschäftigten.

Der Verein “Pro IV”, dem 68 Behinderten-Organisationen angehören, ist sich bewusst, dass die Sanierung der IV weiter gehen müsse, und befürchtet, dass das “weiterhin weh tun” wird.

“Weiter gehen” als der Bundesrat will die Schweizerische Volkspartei und versteht darunter “eine Indexierung der Renten, die ins Ausland überweisen werden, an die dortige Kaufkraft sowie eine Klärung der Frage, wieso so viele Ausländer in der Schweiz eine Invalidenrente erhalten.

Andreas Keiser, swissinfo.ch

Zusatzfinanzierung-IV: 54,5%
Stände: 12 Ja, 11 Nein

Verzicht auf allgemeine Volksinitative: 67,9%
Stände: 23 Ja, 0 Nein

Stimmbeteiligung: 39,7%

15’000 Personen konnten gemäss Bundesratssprecher André Simonazzi in den Kantonen Zürich, Neuenburg und Genf elektronisch abstimmen.

In Genf waren erstmals auch die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer zur elektronischen Abstimmung zugelassen.

Sie machten die Hälfte aller Teilnehmenden beim E-Voting aus, was beweise, dass dies ein attraktives Mittel für die Auslandgemeinde sei, so Simonazzi.

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