Digital entwickelt, mithilfe von Robotern gebaut: Das «Voxelnest» von Disentis
Ein Team der ETH Zürich untersucht die Möglichkeiten der digitalen Architektur. In Disentis wurde nun ein Turm aus 2000 Holzbalken errichtet – mithilfe von Robotern in einem Labor.
Auf einem Felsvorsprung nahe der Lukmanier-Passstrasse bei Disentis steht seit diesem Herbst ein zehn Meter hoher Holzturm. Der Turm entstand in nur zwanzig Wochen Arbeit in enger Zusammenarbeit mit dem Robotic Fabrication Lab der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich.
Die Geschichte hinter diesem Turm ist ungewöhnlich und die Frucht eines Kontakts zwischen dem ETH-Professor Fabio Gramazio und dem umtriebigen Sozialarbeiter Stefan M. Seydel, der seinen Lebensmittelpunkt seit einigen Jahren hierher ins Bündner Oberland verschoben hat.
Gramazio suchte für seinen Masterstudiengang in digitaler Fabrikation einen Partner. «Wir wollten ein Projekt ausserhalb des Geländes der ETH realisieren und uns mit den Schwierigkeiten der realen Welt auseinandersetzen.»
Entwickelt wurde der Turm im Labor der ETH Zürich, dort wurden auch die ersten Module montiert, danach wurden die Module nach Disentis in eine Zimmermannwerkstatt transportiert und soweit vorbereitet, dass sie vor Ort zusammengesetzt werden konnten.
Die einzelnen Segmente durften nicht schwerer als 800 kg sein, damit man sie mit dem Helikopter transportieren konnte.
Idee findet Anklang im Dorf
Stefan M. Seydel erkannte im Gespräch mit Fabio Gramazio schon früh das Potential für die Gemeinde. Der Gemeindepräsident von Disentis, René Epp, liess sich von seiner Begeisterung anstecken und auch der Disentiser Architekt Ursin Huonder fand die Idee interessant.
«Es war einzigartiges Projekt, das da gemeinsam mit der ETH angeschoben wurde», sagt Gemeindepräsident Epp. Er war von der Symbiose zwischen Innovation und Tradition beeindruckt.
«Zusammen mit der neu eröffneten Hängebrücke La Pendenta in der Nähe haben wir nun zwei innovative Projekte, die auch eine Attraktion für unsere Gemeinde sind.» Die Holzkonstruktion dürfe für rund fünf Jahre stehen bleiben und soll dann demontiert werden.
Beim Bau des Turmes haben verschiedene lokale Unternehmen mitgearbeitet und so gelang es, das Projekt in nur zwanzig Wochen zu realisieren – obwohl sich unter dem Turm die Überreste einer Burgruine befinden, die der der Disentiser Mönch Pater Placidus Müller um 1900 entdeckt hatte.
«Die Leute hier kennen sich, man besiegelt Abmachungen per Handschlag», meint Epp. Deshalb gelang es auch, den Kantonsarchäologen ins Boot zu holen, der dem Bau seinen Segen gab.
Computer testet Konstruktions-Ideen
Szenenwechsel – vom Bergdorf Disentis in den High-Tech Campus der ETH-Hönggerberg in Zürich. Im Digital Fabrication Lab sieht man keine Zeichentische mehr, dafür findet man überall Bildschirme und Industrieroboter.
Denn bei der Entwicklung des Turmes spielte der Computer eine entscheidende Rolle: Allerdings geht es für einmal nicht um Künstliche Intelligenz, sondern um aufwendige Berechnungen.
Die Ideen für die Konstruktion stammten alle von den Studierenden des Masterstudienganges Advanced Studies in Architecture and Digital Fabrication, einem sehr international zusammengesetzten Team mit Studierenden aus der Albanien, Portugal, der Schweiz und aus Zypern, dazu aus China, dem Iran, Japan, Indien, Taiwan.
Bei der Konstruktion unterstützte sie ein massgeschneidertes Programm, das ihnen erlaubte, Konstruktionsideen sehr schnell zu testen, zu verwerfen oder weiterzuentwickeln.
So konnte die Kreativität des Entwerfers und der Rechenkraft des Computer miteinander verbunden werden.
Die Balken wurden mit Hilfe einer computergesteuerten Maschine geschnitten, bei der Montage in der ETH-Werkstatt nutzten die Studierenden Augmented Reality Programme auf ihrem Handy und konnten die Resultate jederzeit mit dem digitalen Modell vergleichen.
Jiaxiang Luo, ein chinesischer Absolvent des ETH-Masterprogramms hat mit den Daten eine faszinierende, interaktive Computeranimation programmiert, die vom Publikum genutzt werden kann und einen Einblick in den EntstehungsprozessExterner Link liefert.
Ist das Ganze nun ein Turm? Ja, denn man kann die rund zehn Meter hohe Konstruktion besteigen. Man könnte darin aber auch eine Holzskulptur sehen.
«Caschlatsch» ist nicht der einzige Name für das Projekt, man findet auch den Begriff «Voxelnest». Der Begriff Voxel stammt aus der Computergrafik und bezeichnet einen dreidimensionalen Würfel.
Materialexperimente für die Zukunft
Mit seinen Projekten betreten Fabio Gramazio und sein Kollege Matthias Kohler immer wieder Neuland. So haben sie 2018 für eine Roboterausstellung im Winterthurer Gewerbemuseum einen offenen Pavillon bauen lassen, der mit nur zwei Werkstoffen ausgekommen ist: Schnur und Kies.
Grundlage war ein physikalisches Prinzip namens «Jamming». Legt man ein dichtes Netz von Schnüren aus und füllt eine Schicht Kies darüber, so entsteht durch Wiederholung eine tragfähige Struktur.
Das Auslegen der Schnur und das Einfüllen des Kies besorgte in Winterthur ein Industrieroboter. «Es ging uns darum, ein Konzept zu beweisen. Das Verfahren könnte im Tiefbau angewendet werden, zum Beispiel beim Bau von Dämmen. Hier spielen lokale Materialien eine zentrale Rolle».
Am Ende lässt sich die Schnur wieder aufwickeln und der Kies verliert seinen Halt und kann abtransportiert werden. «Genau das ist für viele Bauten heute entscheidend, man spricht dabei von Rückbau», sagt Fabio Gramazio.
Matthias Kohler und Fabio Gramazio arbeiten zusammen am Lehrstuhl für digitale Fabrikation an der ETH Zürich unter den Namen Gramazio Kohler Research.
Zu ihrem Forschungsgebiet gehören neue Methoden für die Architektur über Entwurf, Gestaltung und Konstruktion. Und in ihrer Werkstatt steht eine Reihe von Industrierobotern und grossen 3D-Druckern, um damit architektonische Bauelemente im realen Massstab herzustellen.
Forschung mit alternativen Baumaterialen sind heute zentral für das Institut. Das hat mit einer zentralen Erkenntnis zu tun: Beton, lange Zeit als Baustoff der Zukunft hat gewichtige Nachteile – er hält nicht ewig, die Produktion ist sehr energieintensiv und nutzt Sand, der bereits knapp zu werden droht.
Holz als Werkstoff hat grosse Vorteile: Es ist leichter als Stahl und Beton, ist ein nachwachsender Rohstoff und speichert das problematische CO2.
Aber trotzdem ist Holz keine Universallösung. Gramazio wendet sich gegen ein vereinfachendes Schwarzweiss-Denken.
«Es geht nicht um Beton gegen Holz», sagt er. Es geht darum, Lösungen für das Bauen der Zukunft zu finden, das dürfte in vielen Fällen eine intelligente Kombination von verschiedenen Baustoffen sein. Dazu gehört zum Beispiel auch Lehm.
Nun steht der Turm auf dem Fels von Caschlatsch. Und was geschieht damit in Zukunft? – Das Holz ist den Unbillen der Witterung ausgesetzt.
Anders als die berühmten Holzhäuser in den Bergen hat er kein schützendes Dach. Das Holz wird feucht und dürfte im Lauf der Zeit verwittern. Falls nötig, könnte man einzelne Balken ersetzen.
Aber man kann den Turm auch verfallen lassen und eines Tages die verbleibenden Balken demontieren. «Der Turm ist nicht für die Ewigkeit gebaut», sagt Fabio Gramazio.
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