
Pharma im Visier: Der riskante Kampf um Arzneimittelpreise

Wie viel ist ein neues Medikament wert? Mit dieser Eine-Million-Dollar-Frage kämpfen Gesundheitsbehörden weltweit, denn die Preise der Pharmaunternehmen steigen beständig.
Arzneimittelhersteller und Aufsichtsbehörden geraten in vielen Ländern immer häufiger über die Preise für neue Medikamente aneinander. In der Schweiz zog der Pharmariese Roche kürzlich ein Krebsmedikament vom Markt zurück, nachdem er mit der Aufsichtsbehörde keine Einigung über den endgültigen Preis erzielen konnte. In GrossbritannienExterner Link stoppten wiederum einige Branchenriesen Investitionen und warnten nach einem langwierigen Streit mit dem Gesundheitsminister über die Preisgestaltung davor, möglicherweise keine neuen Medikamente mehr in dem Land zu verkaufen.
Die Pharmaunternehmen argumentieren, Arzneimittelbehörden würden Innovationen nicht angemessen honorieren und unnötige und kostspielige Nachweise für den Nutzen neuer Therapien verlangen. Die Gesundheitsbehörden kritisieren ihrerseits steigende Kosten für innovative Medikamente und vermeintlich überhöhte Preise für Arzneimittel. Sie sind wachsendem politischen und finanziellen Druck ausgesetzt, die explodierenden Ausgaben einzudämmen.
«Es besteht ein Spannungsbereich in der Politik zwischen den verfügbaren finanziellen Mitteln und den gewünschten Leistungen», erklärt Karin Steinbach, Expertin für die Preisgestaltung von Arzneimitteln bei Lattice Point Consulting in Genf. «Die Länder wollen, dass Patientinnen und Patienten die notwendigen Behandlungen erhalten, sie müssen aber gleichzeitig die Kosten im Griff behalten.»
Die Auseinandersetzungen zwischen Regulierungsbehörden und Pharmaunternehmen verschärfen sich unter anderem aufgrund des Drucks vonseiten des US-Präsidenten Donald Trump. Dieser wirft anderen Ländern vor, die amerikanische Innovationskraft auszunutzen, da sie mithilfe ihrer Regulierungsbefugnisse niedrigere Preise durchzusetzten.
Im Mai unterzeichnete er eine DurchführungsverordnungExterner Link, in der er die globalen Arzneimittelkonzerne aufforderte, ihre Arzneimittelpreise in den USA an die niedrigsten Preise in jenen Ländern anzupassen, deren Pro-Kopf-BIP bei mindestens 60% des US-Niveaus liegt. Derzeit sind die Arzneimittelpreise in den USA die höchsten der Welt. Zudem forderte Trump europäische Länder auf, mehr für Medikamente zu zahlen, um so ihren «gerechten Anteil» an den Innovationskosten zu tragen. Die 17 grössten Pharmaunternehmen haben bis zum 29. September Zeit, Vorschläge zur Senkung der US-Preise vorzulegen.
Geheime Preise
Trumps Forderungen fallen in eine Zeit, in der die Gestaltung der Arzneimittelpreise in vielen Ländern neu ausgerichtet wird. Vor den 1990er-Jahren konzentrierten sich Verhandlungen zwischen Gesundheitsbehörden und Pharmaunternehmen weitgehend auf die Kosten statt auf den medizinischen Wert von Präparaten. Die jeweiligen Preise hingen davon ab, wieviel eine Regulierungsbehörde zu zahlen bereit war und nicht davon, welchen medizinischen Nutzen ein Medikament bot. Dabei orientierten sich viele Länder bei der Preisgestaltung aneinander.
Doch dieses Modell begann unter dem doppelten Druck durch wachsende Ausgaben der Kostenträger im Gesundheitswesen sowie die steigende Anzahl immer teurerer innovativer Behandlungen zu bröckeln.
Allein die AusgabenExterner Link für Krebsmedikamente, ohne zusätzliche medizinische Kosten oder Medikamente zur unterstützenden Behandlung, stiegen in den letzten fünf Jahren um 75%. Laut dem US-amerikanischen Gesundheitsdatenanalyseunternehmen IQVIA erreichten sie 2024 252 Milliarden US-Dollar (200 Milliarden Schweizer Franken). Angesichts steigender Krebsraten werden diese Ausgaben bis 2029 voraussichtlich auf über 440 Milliarden US-Dollar wachsen.
«In Bereichen wie Krebs oder seltenen Krankheiten stehen uns immer mehr Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, was einerseits gut ist», sagt Steinbach. «Aber die Preise sind sehr hoch, um damit die klinische Entwicklung zu finanzieren.»
Roche erklärte gegenüber Swissinfo, dass die Markteinführung eines neuen Medikaments ein Jahrzehnt Arbeit und Investitionen in Höhe von 5,5 Milliarden Schweizer Franken erfordere. Dabei würden nur 10% der in klinischen Studien getesteten Medikamente jemals auf den Markt kommen.
Viele Länder wie Italien, Spanien, Japan und Frankreich begannen, von den Herstellern Preisnachlässe und Rabatte zu fordern, um sich niedrigere Preise zu sichern und einen frühzeitigen Zugang zur Behandlung zu gewährleisten. Die Pharmaunternehmen stimmten dem gerne zu, sofern solche Vereinbarungen vertraulich blieben. Sie argumentierten, dass diese Geheimhaltung andere Länder davon abhalte, niedrigere Preise als ihre Nachbarn zu verlangen.

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Diese hinter verschlossenen Türen getroffenen Vereinbarungen haben jedoch dazu geführt, dass der veröffentlichte Listenpreis eines Medikaments weitgehend Augenwischerei ist.
«Wir stecken seit mindestens zwei Jahrzehnten in dieser Situation fest», sagt Thomas Hofmarcher, Gesundheitsökonom am Schwedischen Institut für Gesundheitsökonomie. «Fast alle Länder mit hohem Einkommen koppeln ihre Arzneimittelpreise durch internationale Referenzpreise aneinander. Diese basieren jedoch auf Listenpreisen, die fiktiv sind.»
Es gibt kaum Belege dafür, dass vertrauliche Rabatte die Gesundheitskosten senken und zu besseren Gesundheitsergebnissen führen. Studien zeigen, dass der vereinbarte Preis häufig nichts mit der Wirksamkeit eines Medikaments oder seinem gesellschaftlichen Nutzen zu tun hat.
Ihr Geld wert sein
Da es nicht gelungen ist, die Kosten einzudämmen, verlangen die Länder nun eine bessere Begründung für die Preise. Fast jedes europäische Land verfügt mittlerweile über eine Behörde, die sogenannte Health Technology Assessments (HTAs) durchführt, das sind systematische Bewertungen nicht nur der medizinischen, sondern auch der sozialen, ethischen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Arzneimitteln.
Die Ansätze variieren, aber alle zielen darauf ab, den tatsächlichen Mehrwert eines Medikaments zu ermitteln. Viele tun dies anhand einer gemeinsamen Messgrösse, dem sogenannten qualitätskorrigiertem Lebensjahr (QALY). Mit ihm können die Aufsichtsbehörden den Nutzen eines Medikaments im Vergleich zu bestehenden Behandlungen oder einem Referenzwert berechnen.
Mit der Kennzahl QALY (Quality Adjusted Life Years) kann der Nutzen eines Arzneimittels abgebildet werden, indem die Zahl der durch ein Medikament gewonnenen zusätzlichen Lebensjahre mit der Lebensqualität in dieser Zeit kombiniert wird. Dabei steht ein QALY von 1 für ein Lebensjahr in perfekter Gesundheit, 0 entspricht dem Tod. Ein Patient, der noch zwei Jahre mit einer Lebensqualität von 0,5 lebt, hat entsprechend ein QALY von 1. Erhöht sich seine Lebensqualität zum Beispiel durch eine neue Behandlung in den zwei Jahren auf 0,8, steigt das QALY entsprechend auf 1,6.
Einige Länder haben Schwellenwerte für die Kosten pro QALY definiert. So hat das National Institute for Health and Care Excellence im Vereinigten Königreich eine Obergrenze von 20‘000 bis 30‘000 Pfund (21‘600 bis 32‘300 Franken) pro gewonnenem QALY festgelegt. Obwohl es sich hierbei nicht um eine Preisobergrenze handelt, wird dieser Wert zur Beurteilung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses einer Behandlung herangezogen.

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In der Schweiz liegt der Fokus stärker auf Preisvergleichen mit anderen Ländern als auf QALY-Berechnungen. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verlangt jedoch zunehmend eine bessere Begründung für die Preise.
«Ein Medikament muss das Leben eines Patienten wirklich verändern, sonst besteht keine Bereitschaft, mehr als den Preis der aktuellen Standardbehandlung zu zahlen», sagt Steinbach. «Wenn ein existierendes Medikament gut wirkt, müssen die Unternehmen beweisen, dass ein neues Medikament einen höheren Preis wert ist.»
Streitigkeiten und Verzögerungen
Branchenverbände unterstützen weitgehend die wertorientierte Preisgestaltung. Sie sind sich jedoch häufig mit den Behörden uneinig darüber, wie diese umgesetzt wird. Die zunehmend aufgeheizten Feilschereien zwischen Regulierungsbehörden und Pharmaunternehmen führen dazu, dass sich Verhandlungen länger hinziehen. Der Zugang zu neu zugelassenen Medikamenten wird so verzögert oder eingeschränkt.
In Europa standen Patientinnen und Patienten laut der W.A.I.T.-StudieExterner Link der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations im Jahr 2024 über die zentrale Kostenerstattung durch die Krankenkassen nur 29% der in den drei Jahren zuvor zugelassenen Medikamente zur Verfügung, 2019 waren es noch 42%. Da Betroffenen also länger auf neue Medikamente warten müssen, haben immer mehr Länder, darunter auch die Schweiz, Notfallmechanismen eingeführt, um sicherzustellen, dass einzelne Patientinnen oder Patienten diese dennoch erhalten.
Einige in den USA weit verbreitete Arzneimittel wurden von einigen europäischen Preisregulierungsbehörden mit der Begründung abgelehnt, sie seien nicht kosteneffizient. Darunter sind das Alzheimer-Medikament Leqembi und das Brustkrebsmedikament Enhertu. Zwischen 2019 und 2023 wies die zuständige schwedische BehördeExterner Link 54 Anträge auf Erstattung von Arzneimitteln ab, vor allem weil die Kosten im Verhältnis zum Nutzen zu hoch waren.
Einige Pharmaunternehmen haben sich aufgrund von Streitigkeiten mit nationalen Regulierungsbehörden über die Preisgestaltung aus Märkten zurückgezogen oder Medikamente gar nicht erst auf den Markt gebracht. Das US-amerikanische Biotech-Unternehmen Bluebird Bio stellte 2022 seinen Geschäftsbetrieb in Europa ein. Es begründete dies mit den hohen Hürden auf dem Weg, die überwunden werden mussten, um die europäischen Länder davon zu überzeugen, die Kosten für Bluebird Bios Gentherapien zu übernehmen. Im Juli zog Roche sein Krebsmedikament Lunsumio vom Schweizer Markt zurück, nachdem die Behörden vor der Festlegung eines endgültigen Preises weitere Nachweise verlangt hatten.
Derweil zeichnet sich keine Lösung für den andauernden Disput um die Preisgestaltung für Medikamente ab. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass Trumps Forderungen nach höheren Preisen in anderen Ländern eher zu weiteren Streitigkeiten mit den Arzneimittelherstellern, Verzögerungen für die Patientinnen und Patienten und grösserer Geheimhaltung führen werden.
«Die USA verstehen nicht, dass die europäischen Gesundheitssysteme, von denen viele staatlich finanziert werden, es sich nicht leisten können, mehr zu zahlen», sagt Hofmarcher. «Sie haben bereits jetzt Schwierigkeiten, die Gesundheitsleistungen zu finanzieren.»
Editiert von Nerys Avery/vm/ac; Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Petra Krimphove/cm

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