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Thomas Imbach: Im Bann toxischer Männlichkeit

Thomas Imbach
Der 1962 in Luzern geborene Thomas Imbach wurde in den 1990er-Jahren bekannt und hat sich seither einen Ruf als unkonventioneller Filmemacher erarbeitet. Film Festival Locarno

Er gilt als einer der mutigsten Schweizer Regisseure. Eine Retrospektive zeigt das breite Schaffen des Filmemachers Thomas Imbach, der die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm verschwimmen lässt. Im Fokus seiner Werke steht oft das schädliche Verhalten von Männern.

In Sachen Dokumentarfilm kann die Schweiz mit den ganz Grossen mitmischen. Doch auch in diesem Genre ist es für einen Regisseur nicht einfach, sich als Original zu etablieren. Einer, dem das seit Jahren gelingt, ist Thomas Imbach.

Seit dem 22. November zeigt die Streaming-Plattform “DAFilms” die Retrospektive “No Short Cuts: The Films of Thomas Imbach”Externer Link mit zehn Werken des Schweizer Filmemachers. Kuratiert wird das Projekt von “Doc Alliance”, einer kreativen Partnerschaft von sieben europäischen Dokumentarfilm-Festivals..

Mit Ausnahme des Films “Mary, Queen of Scots”, der bislang nur in Frankreich und der Schweiz zugänglich ist, sind Imbachs Filme in den folgenden Ländern verfügbar:

Europa: Dänemark, Portugal, Polen, Deutschland, Frankreich, Tschechische Republik, Schweiz, Spanien, Slowakei, Österreich und Vereinigtes Königreich.

Amerika: USA, Kanada, Brasilien, Argentinien und Mexiko.

Asien: Taiwan, Japan, Hongkong, Indonesien, Singapur und Philippinen.

Der 1962 in Luzern geborene Imbach wurde in den 90er-Jahren bekannt. Er gilt als cineastischer Aussenseiter, der die traditionellen Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm verwischt

Wilde Sozialstudien

Die Retrospektive beginnt im Jahr 1994 mit “Well Done”. Imbach hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Kurzfilme gedreht, doch dieses Werk bietet den passenden Ausgangspunkt, da der Film auch 27 Jahren später wie ein grosses künstlerisches Statement wirkt.

Der Film spielt in einem Zürcher Finanzdatenzentrum und zeigt den Alltag einiger ihrer Angestellten: einen IT-Techniker, der sein Berufs- und Privatleben unter einen Hut bringen muss; eine weibliche Führungskraft, die gegen sexistische Einstellungen ankämpft; die kleine Armee von Frauen, welche die Telefone bedienen; Kundenbetreuer, die über die Bewegung von Millionen von Schweizer Franken diskutieren; und Abteilungsleiter, die eine von Nervenzusammenbrüchen geplagte Belegschaft beaufsichtigen.

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Obwohl “Well Done” viele Vorbilder hat – man denke nur an Godfrey Reggios “Koyaanisqatsi”Externer Link – , ist er ein eigenständiger Meilenstein des Schweizer Dokumentarfilms. Es ist ein abgedrehtes Porträt von Zürich zu Beginn des Internet-Zeitalters.

Darauf folgte 1997 “Ghetto”Externer Link, eine Art Begleitfilm. Der Film konzentriert sich auf eine Gruppe rüpelhafter Vorstadtjugendlicher, die sich am Ende ihrer Sekundarschulzeit befinden.

“Ghetto” reduziert die experimentellen Schnitte seines Vorgängers und erhöht dafür den emotionalen Einsatz: Die Protagonisten sind zugänglicher, ihre Kämpfe sind klarer umrissen und ihre Desillusionierung ist greifbarer. Obwohl der Film von der zeitgenössischen Angst vor Jugendkriminalität durchdrungen ist, ist er eine faszinierende soziologische Zeitkapsel der Schweiz Ende der 90er-Jahre.

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Anstatt die technischen Innovationen dieser Werke zu verdoppeln oder sich in hyperaktuellen Milieustudien einzunisten, erforschte Imbach in seinen nächsten Werken das Thema Männlichkeit näher.

Seine Filme der 2000er-Jahre, “Happiness Is a Warm Gun” (2001), “Happy Too” (2002), “Lenz” (2006), “I Was a Swiss Banker” (2007) und “Day Is Done” (2011) beschäftigen sich alle auf die eine oder andere Weise mit toxischem männlichem Verhalten.

Stets überbordende Männlichkeit

“Happiness Is a Warm Gun” ist ein besonders heikler Fall. Ausgehend von der Ermordung der deutschen Politikerin Petra Kelly im Jahr 1992 durch ihren Lebensgefährten Gert Bastian, stellt sich das Dokudrama die beiden (gespielt von Linda Olsansky und Herbert Fritsch) in einer Art Fegefeuer vor, in dem sie vor der Kulisse eines Flughafens ihre belastete Beziehung aufarbeiten.

Imbach erklärt, dass es seine Absicht war, Kelly einen “bedeutungsvolleren” Tod zu gönnen. Dennoch liest sich “Happiness” vor allem als ein etwas fehlgeleiteter Versuch, dem Femizid einen poetischen Sinn zu geben. Das reicht aus, um den Film zu Imbachs beunruhigendstem Werk zu machen.

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In “Lenz”Externer Link und “I Was a Swiss Banker” hingegen fallen Imbachs dokumentarisches und fiktionales Filmemachen in sich zusammen. Im Fall von “Lenz”, der sich auf Georg Büchners gleichnamige Erzählung stützt, ist die Hauptfigur ein selbstbesessener Regisseur, der verzweifelt versucht, während eines Skiurlaubs wieder Kontakt zu seiner Ex-Frau und seinem Sohn aufzunehmen.

Dabei verwickelt Imbach den Hauptdarsteller Milan Peschel in immer peinlichere Gespräche mit ahnungslosen Passanten und demonstriert sowohl Lenz’ entgleitenden Realitätssinn als auch die Leere hinter den heiteren Chalet-Fassaden von Zermatt.

Lenz’ sommerliches Spiegelbild, das moderne Märchen “I Was a Swiss Banker”, über einen eitlen Bankier, der die wahre Liebe sucht, geht so weit, mit dem Dadaismus zu flirten, indem es aus Bildern im Vérité-Stil, ehrenamtlichen Nebendarstellern und überdrehten Hauptdarstellern eine chaotische und sagenhafte Reise durch die Schweiz kreiert.

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Diese Geschichten von überbordender Männlichkeit werden durch “Day Is Done” ergänzt – eine Collage von Bildern, die aus dem Fenster von Imbachs Atelier in Zürich aufgenommen wurden. Akustisch werden sie von Anrufbeantworter-Nachrichten begleitet, welche die Geschichte eines emotional distanzierten Künstlers namens T. erzählen.

Im Laufe von 111 Minuten erfahren wir vom Tod seines Vaters, der Geburt seines Sohnes, dem Scheitern seiner Ehe – doch T. geht nicht ans Telefon; er hört und sieht nur zu.

“Day Is Done” ist vielleicht Imbachs grösste Leistung als Autor: Er kehrt zu den fragmentarischen Ansichten von Zürich zurück, die wir in “Well Done” und “Ghetto” gesehen haben, und bietet ein fiktionalisiertes Memoir, ein düsteres Porträt des schwer fassbaren Künstlers als Mann mittleren Alters.

Es ist sicherlich eine Abrechnung mit – und vielleicht auch eine hinterhältige Feier – der toxischen Männlichkeit, die im erzählerischen Zentrum vieler seiner Filme steht.

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Vieles neu erdacht

Imbachs Arbeit nach “Day Is Done” wirkt zum Teil wie ein Versuch, einige seiner früheren Werke neu zu überdenken. Das Historiendrama “Mary Queen of Scots”Externer Link von 2013 ist ein konventionellerer, aber auch eleganterer Versuch, den Tod einer berühmten Frau neu zu bewerten als “Happiness Is a Warm Gun”.

Ebenso ist “My Brother, My Love” von 2018, ein Drama über eine Teenagerin, die eine sexuelle Beziehung mit ihrem älteren Bruder anstrebt, ein überzeugender umgesetzter Abstieg in den liebesinduzierten Wahnsinn als “Lenz”.

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In “Nemesis” (2020) schliesslich, einer Chronik des Abbruchs des alten Zürcher Güterbahnhofs, die ähnlich wie “Day Is Done” gedreht wurde, stellt Imbach sein soziologisches Gespür unter Beweis, das bereits in “Well Done” durchschimmerte.

Es bricht in der Voice-over-Erzählung hervor, die sich aus Aussagen von Eingewanderten zusammensetzt, die auf ihre Ausweisung warten. Die politische Aussage ist eindringlich: So wie die Schweiz ihre historischen Strukturen mit Bulldozern niederreisst, überpflastert sie auch ihre humanitäre Tradition.

Es lässt sich nicht leugnen, dass Imbachs gesamte Karriere auf diesen Akt der pointierten Kritik ausgerichtet war. Natürlich steht diese im Einklang mit seinen thematischen Interessen.

Aber die wahre Schönheit dessen, was man in den zehn Titeln von “No Short Cuts: The Films of Thomas Imbach” entdecken kann, ist nicht die Verborgenheit fester ideologischer oder künstlerischer Grundsätze, sondern die herausfordernde, oft frustrierende und nicht zuletzt erheiternde Erkenntnis, dass Imbach ein seltenes Exemplar der Spezies Regisseur ist, das so Vieles in sich vereint.

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(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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