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New Glarus: Howard Christensen als Willhelm Tell

Der norwegisch-amerikanische Tell mit Sohn Walterli. swissinfo.ch

"America's little Switzerland" nennt sich das kleine Städtchen New Glarus im Bundesstaat Wisconsin. Seit 1938 findet hier jedes Jahr im Spätsommer das Wilhelm-Tell-Festival statt.

Die Geschichte des Schweizer Nationalhelden wird in einer gekürzten Version der Vorlage von Schiller als Freiluftspiel von Laiendarstellern auf die Bühne gebracht – und zwar in Deutsch und Englisch.

New Glarus liegt im Green County, einer grosszügig weiten, leicht hügeligen Gegend, die etwas an die Schweiz erinnert. Auch das Dorf selber hat bis heute einen Schweizer Charakter, Häuser im Chalet-Stil und der Kirchturm, der in den Himmel ragt, tragen dazu bei.

Die Nachfahren der Siedler, die 1845 New Glarus gegründet hatten, halten Tradition und Brauchtum aus der alten Heimat unter anderem mit dem Festival am Leben. Alten Quellen zufolge haben Feste, Theater und Musik im Leben der Gemeinde seit der Gründerzeit einen wichtigen Platz.

Heute ist das Festival eine Attraktion für Touristen. Viele ehemalige Bewohner von New Glarus nutzen den Anlass, um Familie und Freunde am alten Wohnort zu besuchen.

Eine Dorfgeschichte

Rund 250 Laiendarsteller und Helfer jeglichen Alters stehen für die Produktion im Einsatz. “Viele Familien machen seit Jahrzehnten in irgend einer Form mit, das Festival ist etwas, das uns alle verbindet”, erklärt Kaye Gmur vom Vorstand der lokalen Wilhelm-Tell-Gilde.

Gespielt wird etwas ausserhalb des Dorfes auf einer Waldlichtung in einer Talsenke. Ein schmaler Fusspfad führt die Zuschauer durch den Wald in die natürliche Arena.

Eine Naturbühne im Wald

Eine Stunde vor Auftakt geht es “hinter den Kulissen”, im Walde, emsig zu und her. Tony Zgraggen macht sich als Werner Stauffacher bereit, seine Frau Esther Zgraggen schlüpft ins Kostüm der Berta von Bruneck.

Der Tell in der deutschen Version wird vom norwegischstämmigen Howard Christensen gespielt, und der Deutsche Peter Etter mimt den Gessler. “Wie es sich gehört”, witzelt er. Die englische Vorstellung wird zu einem grossen Teil in anderer Besetzung gespielt.

Unter den Darstellern und Darstellerinnen – von kleinen Kindern bis zur rüstigen 80-Jährigen – finden sich bis heute auch zahlreiche Nachfahren der Glarner Familien, die sich ab 1845 hier niederliessen. Darauf weisen Namen wie Elmer, Legler, Luchsinger, Marty, Hefty, Zweifel, Streiff oder Stuessy hin.

Einige der Akteure waren schon in der ersten Tell-Vorführung 1938 mit dabei. Kathy Elmer zum Beispiel spielte damals als 10-Jährige ein Blumenmädchen. Später durfte sie auch die Rolle von Bertha von Bruneck oder jene von Tells Frau Hedwig übernehmen.

“Heute trete ich noch als Bauernfrau im Hintergrund auf”, erklärt die lebhafte 80-Jährige mit einem schelmischen Zwinkern. Um nichts würde sie diese Tage verpassen wollen.

Tell und der “Lonesome Ranger”

Das Wetter spielt mit, es ist ein wunderschöner Spätsommermorgen. Langsam kommen die ersten Zuschauer und Zuschauerinnen, alt und jung, bunt gemischt, kleine Kinder spielen im Gras. Neben Amerikanern sitzen auch einige Schweizer Touristen im Publikum.

Dann beginnt die erste Vorführung, in Deutsch. Zum Auftakt ertönt Giacchino Rossinis Ouvertüre zur Oper Wilhelm Tell – in den USA vor allem bekannt als Titelsong der Western-Fensehserie “Lonesome Ranger”. Was einige Lacher und Kommentare provoziert.

Dem Publikum scheint es zu gefallen. Nach jeder Szene gibt es viel Applaus, besonders lautstarken nach Tells tödlichem Schuss auf Gessler.

Politische Botschaft

“Ob die Geschichte von Tell erfunden ist oder sich so etwas wirklich abgespielt hat, ist eigentlich unwichtig. Die politische Botschaft des Spiels hat bis heute ihre Gültigkeit”, erklärt ein älterer Amerikaner nach der Vorführung. “Gegen Tyrannei muss man sich wehren.” Er komme alle paar Jahre aus Chicago hierher. “Es gefällt mir immer wieder.”

Bei den zwei englischen Vorstellungen sitzen deutlich mehr Leute im Publikum. “Leider kommen heute viel weniger Leute als früher”, hört man dennoch öfters. Vor 10, 15 Jahren seien es noch einige Tausend Personen gewesen. Heute noch zwischen 800 und 1000.

Früher habe es am Labor Day Weekend in der Region keine anderen Festivals gegeben, heute sei das anders, lautet die häufigste Erklärung. Den Spass an ihrem Fest lassen sich die Leute in New Glarus dadurch aber nicht nehmen. Bis spät in den Abend hinein herrscht im Dorf noch Betrieb, man singt und tanzt.

swissinfo, Rita Emch, New Glarus

Der Anstoss für das Festival kam von Edwin Barlow, einem Mann mit Wurzeln in New Glarus. Nach Besuchen der Tell-Spiele in Interlaken und Altdorf brachte er im Dorf die Idee auf.

Die erste Vorführung fand 1938 statt, bis 1940 nur in Deutsch. 1941 wurde zum ersten Mal auch eine englische Vorführung inszeniert. Seit 1953 wird auf einer etwas ausserhalb von New Glarus gelegenen Lichtung gespielt.

Zum Rahmenprogramm gehören Konzerte des Kinderchors und des New Glarus Jodler-Clubs, Tänze junger Mädchen in Trachten aller Schweizer Kantone sowie eine Trachten-Modeschau, bei der auch Trachten aus anderen Ländern vorgestellt werden: Ein Zeichen der sich wandelnden Zusammensetzung der Bevölkerung von New Glarus.

Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Tausende von Glarnern ihre alte Heimat aus wirtschaftlicher Not verlassen.

1845 gründeten rund 100 dieser Immigranten New Glarus.

Heute leben rund 2100 Menschen in dem Dorf etwa drei Autostunden ausserhalb von Chicago. Farmer gibt es nicht mehr viele, immer mehr Einwohner pendeln zur Arbeit in die umliegenden Städte.

Die Namen vieler Familien erinnern bis heute an die Schweiz, so Elmer, Kundert, Hefty, Legler, Stauffacher, Streiff, Dürst (heute Durst) und Gmür (Gmur), Hefty oder Hösly.

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