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Abbild der Welt

Eine Reise nach Italien, im Schweizer Film "Il viaggio a Misterbianco". Screenshot aus dem Film "Il viaggio a Misterbianco"

In Nyon treffen sich Film-Profis und Cineasten am Dokumentarfilm-Festival "Visions du Réel". Viele der Werke beschäftigen sich mit sozialen und politischen Themen: Gewalt, Ungerechtigkeit und Krieg.

Das Genre will die Realität abbilden. Nicht aber die Hoffnung töten.

Narben und Wundmale auf heller Haut. Bestrafung durch den Ehemann und Zuhälter, teils auch Selbstverstümmelung, dazu die Peitschenhiebe im Staatsgefängnis. Die Nahaufnahmen füllen die Leinwand. Sonst sieht das Publikum von der 18-jährigen Zwangsprostituierten in Iran nur den Schatten.

Im Film “Va Ankaboot Amad – And along came a Spider” des iranischen Filmemachers Maziar Bahari hat sie die schlimmste Geschichte zu erzählen. Die Hauptfigur ist jedoch ein Mann im Gefängnis, Sahid Hanaeis. Er hat im religiösen Eifer 16 Prostituierte ermordet. Frauen wie sie.

Das neunte Dokumentarfilm-Festival “Visions du Réel” in Nyon am Genfersee hat nicht zum Ziel, dem Publikum leichte Kost zu servieren. Zwischen dem 28. März bis am 4. Mai zeigt es 116 Filme aus 30 Ländern.

“Alle Filme zeigen eine glaubwürdige Geschichte”, betont Festivaldirektor Jean Perret. Er fasst den Begriff des Dokumentarfilms bewusst weit, will damit auch experimentelle Filme zulassen. Die Auswahl traf er und sein Team aus über 1500 Einsendungen. “Wir haben das Programm gestrafft und versucht, nur das Relevanteste auszuwählen.”

Aus aktuellem Anlass zeigt das Festival mehrere Filme über soziale Ungerechtigkeit, Gewalt und Krieg. Heitere Lichtblicke liefern Filme wie “I used to be a Filmmaker” von Jay Rosenblatt, der seine frische Vaterschaft in eine ironische Film-Lehrstunde verwandelt oder Jesper Jargils “The Purified”, wo sich Dogma-Regisseure gegenseitig Verfehlungen vorwerfen. Spezielles Gewicht wurde auf Arbeiten des umstrittenen Österreichers Ulrich Seidl gelegt, dessen Arbeiten in einer Retrospektive zu sehen sind.

Internationaler Wettbewerb

Im internationalen Wettbewerb um fünf Preise im Gesamtwert von 37’500 Franken stehen 22 Filme. “War and Peace” des Inders Anand Patwardhan beispielsweise beschäftigt sich mit dem nuklearen Wettrüsten auf dem indischen Subkontinent.

Er zeigt die Propaganda in Indien und Pakistan, die Auswirkungen von Kernwaffen, den radioaktiven Abfall mit dem Strassen repariert werden und den zivilen Widerstand gegen den nuklearen Grössenwahn. Zwei Stunden dauert das Lehrstück.

“Der Film ist fürs westliche Publikum vielleicht zu lange”, sagt Ruth Dreifuss, als Altbundesrätin prominentestes Mitglied der fünfköpfigen Jury. “Aber ich habe viel Respekt vor dem Filmemacher, der mit Mut und Ausdauer ein Manifest gegen das Wettrüsten geschaffen hat. Nach diesem Film ist man klüger.”

Schweizer stark vertreten

Der Schweizer Beitrag im Wettbewerb heisst “Il viaggio a Misterbianco”. Er ist ein Reisetagebuch des Filmers Paolo Polini, Italiener auf dem Papier, wohnhaft in der Schweiz. “Am Zoll zeige ich meinen italienischen Pass. Denn ich bin Italiener. Aber ich habe nie in Italien gelebt”, fasst er seine Ausgangslage zusammen. Vier Monate reiste er mit der Videokamera durch sein unbekanntes Vaterland; vom Brenner nach Sizilien. Kondensiert hat er seine Reise zu 90 Minuten Film, die zwischen Entdeckung und Reflexion, zwischen Heiterkeit und Melancholie pendeln.

Insgesamt sind acht Schweizer Produktionen oder Koproduktionen zu sehen. Neben bekannten Namen wie Richard Dindo, Frédéric Gonseth oder Francis Reusser stehen auch drei Erstlinge auf dem Programm.

“Die neue Generation Filmer wird die Erwartungen bestimmt einlösen”, urteilt Paul Riniker über das junge Filmschaffen in der Schweiz. Der Dokumentarfilm-Veteran ist selber mit 60 Ein-Minuten-Spots über die Schweiz in Nyon vertreten. “Ich habe unwahrscheinlich gute Filme gesehen in den letzten Monaten, diese Autoren haben Zukunft.”

Die Realität im Film

“Der Dokumentarfilm will der Welt etwas mitteilen. Aber statt ein Drehbuch zu schreiben, versuchen die Filmschaffenden die Botschaft mit der Kamera einzufangen”, beschreibt Marcy Goldberg das Genre. Sie lehrt an der Universität Zürich Filmwissenschaft und arbeitete auch an der Festival-Auswahl mit.

“Die Menschen im Dokumentarfilm sind echt und sie geben ihre eigene Meinung wieder.” Ein Bistro-Wirt mit grosser Brille erzählt warum er seine Arbeit mag, eine Prostituierte mit Zahnlücke betrauert ihr kaputtes Leben, Polizisten knüppeln Globalisierungskritiker, russische Soldaten versuchen mit derben Witzen den Krieg zu verdrängen.

Idealisten hinter der Kamera

Das Engagement der Filmer ist spürbar. Die finnische Filmerin Kiti Luostarinen wirkt selber mitgenommen vom Tod der vier Krebspatienten, die nacheinander alle sterben. Ihre Arbeit “Kuoleman Kasvot – The Face of Death” beschreibt deren letzte Monate in einem Hospiz.

“Ich habe Angst um mein Leben”, bekennt die Kolumbianerin Catalina Villar in ihrem Film “Bienvenido a Colombia”. Sie ist im Wahljahr 2002 in ihre Heimat zurückgekehrt, um die politische und soziale Situation des von Gewalt zerrütteten Landes zu zeichnen.

Manchmal kommt der Film auch zum Künstler und der Künstlerin. Die israelische Filmemacherin Michal Aviad hat zu Beginn der zweiten Intifada zur Videokamera gegriffen. Herausgekommen ist der Film “For my Children”, der den Alltag zwischen im Nahen Osten zwischen Gewalt und Hoffnung zeigt.

“Es ist mein Leben, ich lebe im Krieg.” Sie formuliert das Dilemma progressiver Kräfte in Israel: “Auch wenn wir für den Frieden sind, hört der Krieg nicht auf. Der Film ist die Waffe, um die Realität zu ändern.”

swissinfo, Philippe Kropf, Nyon

Wettbewerbs-Filme:

Jos de Putter, The Damned and the Sacred, 75′

Vladimir Eisner, The Last Term, 30′

Fouad Elkoury, Lettres à Francine, 45′

Johann Feindt, M.I.A. – Missing in Action, 59′

Marianne Gosset, Un Mal fou, 68′

Nina Hedenius, The Art of Cleaning, 60′

Thomas Heise, Vaterland, 98′

Mike Hoolboom, Imitations of Life, 75′

Patric Jean, La Raison du plus fort, 85′

Victor Kossakovski, Hush!, 80′

Michel Langlois, Le Fil cassé, 50′

Kiti Luostarinen, The Face of Death, 53′

Lottie Marsau & Katharina Geinitz, Tot in Lübeck, 104′

Liivo Niglas, Yuri Vella’s World, 58′

Anand Patwardhan, War and Peace, 138′

Michael Pilz, Siberian Diary – Days at Apanas, 140′

Paolo Poloni, Il viaggio a Misterbianco, 87′

Erik van Empel, Tour des légendes, 68′

Djamila Sahraoui, Et les arbres poussent en Kabylie, 86′

Deborah Stratman, In Order Not to Be There, 33′

Dirk Szuszies & Karin Kaper, Resist, 90′

Nina Toussaint & Massimo Iannetta, La Décomposition de l’âme, 82′

“Visions du Réel”
116 Filme aus 30 Ländern
8 Schweizer Filme, davon 3 Erstwerke
Retrospektiven mit Denis Gheerbrant (F) und Ulirch Seidl (AU)
Schwerpunkt: Filme aus Argentinien
Vier Kinosäle, einer davon aufblasbar am Ufer des Sees mit 300 Plätzen

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