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“Es wird eine der schönsten Rad-WM werden”

Die Rad-WM in Mendrisio beginnt am Mittwoch mit dem Zeitfahren der Frauen. Am Donnerstag will Fabian Cancellara den Titel bei den Männern zurückholen. Ein Blick mit Antonio Ferretti, Ex-Profi und heute Journalist, in die Welt des Radsports, die alles andere als eine heile ist.

Der 52-jährige Tessiner Antonio Ferretti ist ein Insider der Radsportszene: Lange selbst Profi, schreibt er heute darüber. Er kennt die WM-Strecken in Mendrisio wie seine Hosentasche.

Und natürlich weiss er, was seinen Sport ausmacht: Das Leiden im Sattel, das gefeierte Sieger hervorbringt und einsame Verlierer, alles überschattet von Doping.

Antonio Ferretti ist begnadeter Erzähler, dem man stundenlang zuhören möchte. Die Erzählungen aus seinem schier unerschöpflichen Fundus führen in Höhen und Tiefen der Welt der Radrennen.

swissinfo.ch: Im Tessin herrscht eine grosse Begeisterung für das Velo. Woher kommt sie?

Antonio Ferretti: Diese Passion fürs Zweirad reicht weit zurück. Es gibt Veloclubs und -vereinigungen im Tessin, die 70-jährig oder noch älter sind. Das zeigt, dass die Leidenschaft bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückreicht.

Der Höhepunkt der Radbegeisterung fiel in die letzten Kriegsjahre und die direkte Nachkriegszeit. Damals war die Rivalität zwischen Italien und der Schweiz besonders ausgeprägt. Italien entstieg den Trümmern des Krieges.

Symbolfiguren wie Gino Bartali und Fausto Coppi waren unbesiegbare Helden, die im Ausland zeigen konnten, dass die Italiener im Krieg zwar besiegt waren, aber im Sport siegen konnten.

Doch auch die Schweiz hatte mit Hugo Koblet und Ferdi Kübler zwei grosse Champions. Und im Tessin lebten damals zahlreiche italienische Emigranten aus der Zeit des Waffenstillstands. Auch dank ihnen schlug die Leidenschaft fürs Radrennen damals tiefe Wurzeln im Tessin.

swissinfo.ch: Leidenschaft also dank der Rivalität der beiden Nachbarländer?

A.F.: Zwischen den italienischen Flüchtlingen im Tessin und den Schweizern, die sich mit Koblet und Kübler identifizierten, kam es zum grossen Wettstreit. Man denke nur daran, dass Koblet 1950 als erster Ausländer den Giro d’Italia gewann – und damit ein Tabu brach, weil Bartali und Coppi zur gleichen Zeit auf dem Gipfel ihrer Popularität waren.

Kübler gewann die Tour de France, während Bartali bedroht wurde und sich zurückzog. Der Konkurrenzkampf ging weiter an der Weltmeisterschaft in Varese, die ebenfalls Kübler gewann.

Zwei Jahre darauf kehrte Coppi den Spiess um und gewann die WM in Lugano. Die Rivalität jener Jahre war grösser als die, welche heute vom Fussball ausgeht.

Damals kam im Tessin auch der Enthusiasmus auf für Attilio Moresi, den ich für den Grössten des Tessiner Radsports halte. Dieser Rennfahrer gewann ein Jahrzehnt lang die Tour de Suisse, nahm an Weltmeisterschaften teil und war ein internationaler Champion.

swissinfo.ch: Zur Gegenwart: Die WM findet im Südtessin statt. Ist die Topographie attraktiv?

A.F.: Wir befinden uns immer noch in den Voralpen, also stellt sich die Frage nach dem Terrain. Kleine Steigungen von zwei bis drei Kilometern Länge sind ideal für einen WM-Rundkurs.

Die Nähe zur Lombardei und zum Piemont ist ein Vorteil. Die UCI als Radsport-Weltverband weiss, dass eine WM im Tessin grosses Potenzial hat, wegen der Fans, die sowohl aus dem Norden wie aus dem Süden Europas anreisen werden.

swissinfo.ch: Was für Rennen erwarten Sie an der WM vor Ihrer Haustür?

A.F.: Viel, denn es dürfte eine der schönsten Nachkriegs-WM werden. Davon geht auch Franco Ballerini aus, der Selektionär der italienischen Mannschaft.

Technisch gesehen ist der knapp 14 Kilometer lange Kurs fabelhaft, weist er doch zwei happige Steigungen auf, die nur vier Kilometer auseinander liegen.

Die Erholungszeiten werden also kurz ausfallen. Insgesamt müssen die Fahrer 19 Runden absolvieren.

swissinfo.ch: Fabian Cancellara, der Olympiasieger von Peking 2008, ist Favorit im Zeitfahren. Hat er auch Chancen im Strassenrennen vom Sonntag?

A.F.: Ich glaube, dass die Strecke für ihn zu hart sein wird, sie dürfte zu lang sein und zu viele Höhenmeter aufweisen. Cancellara ist ein ganz Grosser des Radsports. Als Muskelpaket ist er aber weniger prädestiniert für Steigungen.

Aber er selbst glaubt an seine Chancen in beiden Rennen, und er bereitet sich dementsprechend vor. Dazu kommt seine ausserordentliche mentale Stärke. Nimmt er sich ein Ziel vor, verfehlt er es fast nie. Wir erwarten an seiner Heim-WM Grosses von ihm.

Ich glaube aber, dass im Strassenrennen Michael Albasini die besseren Karten besitzt. Niemand spricht von ihm, aber er verfügt über die Qualitäten, um in diesen Steigungen bestehen zu können.

swissinfo.ch: Wen sehen Sie als Favoriten?

A.F.: Schwierig zu sagen, da der Radrennsport schwierige Zeiten durchmacht. Jene Fahrer, die für einen solch hartes und langes Rennen die idealen Voraussetzungen mitbrächten, sind wegen Doping gesperrt. Ich denke an Davide Rebellin, Danilo Di Luca und andere.

Ein anderer Kronfavorit könnte noch vor der WM disqualifiziert werden oder unmittelbar danach: Der Spanier Alejandro Valverde darf auf italienischem Territorium nicht mehr fahren, aber in anderen Ländern schon. Da sich das Hauptquartier des spanischen WM-Teams jedoch in Italien befindet, werden wir wohl Zeugen eines Krimis werden…

Wegen dem von der Chemie derart untergrabenen Radrennsport hat auch Alberto Contador seine Saison vorzeitig beendet.

Den Italienern bleibt Damiano Cunego, auf den sie setzen können. Zwei grosse Favoriten jedoch sind wenig bekannt: Der Norweger Boasson Hagen, ein aufgehender Stern, und der Belgier Philippe Gilbert.

swissinfo.ch: Der Radsport als ewige Geisel des Dopings?

A.F.: Ja, leider, eine Gewohnheit, die bleibt. Ein WM-Titel, der Sieg an einer Rundfahrt oder auch nur einer Etappe bringt dem Fahrer heute viel mehr als vor zwanzig Jahren. Mit anderen Worten: Im Radrennsport lässt sich heute viel Geld verdienen.

Deshalb ist man heute zu allem bereit. Auch deshalb, weil es Ärzte gibt, die differenzieren können. Heute gewinnt der, der den richtigen Arzt hat, besonders an einer grossen Rundfahrt wie der Tour de France oder dem Giro d’Italia.

Die Ärzte, an die ich denke, sind Spezialisten für die Veränderung der Blutwerte, die in den Anti-Doping-Kontrollen unentdeckt bleiben. Solche Mediziner verdienen natürlich auch eine Menge Geld.

swissinfo.ch: Was macht den Reiz des Radrennens aus?

A.F.: Radfahren war für mich erstes Ausdrucksmittel meiner Freiheit. Im Velosattel habe ich das ganze Tessin entdeckt. Der Radsport konfrontiert einen mit sich selbst, mit seinen Limiten.

Er ist auch eine Art Reiseroman – dieser Sport bringt einen näher zu Landschaft und Raum.

Françoise Gehring, Lugano, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

Der Tessiner mit Jahrgang 1957 war von 1982 bis 1988 Radprofi. Damit nahm er eine fast 20 Jahre lang unterbrochene Tradition wieder auf – das Tessin hatte zwei Dekaden keinen Rad-Professional gestellt.

Er studierte italienische Literatur an der Universität Freiburg.

In den Profi-Radsport kam er dank des Teams Cilo-Aufina, das ihn unter Vertrag nahm. Er beendete dreimal die Tour der France (1982 bis 1984). Beste Klassierung war 1983 der 31. Rang.

Ferretti bestritt auch drei Mal den Giro d’Italia, sieben Mal die Tour de Suisse und eine WM.

Nach dem Rücktritt vom Radsport begann er eine journalistische Laufbahn, zuerst bei der Tageszeitung La Regione Ticino, dann bei der Radiotelevisione della Svizzera italiana. Sein Studium beendete er mit einer Dissertation über die Rhetorik in der Sport-Kommunikation.

Als Fernseh-Kommentator hat er 15 Mal die Tour de France und rund 20 Weltmeisterschaften begleitet.

Ferretti zählt Fausto Coppi und Eddie Merckx zu den Meilensteinen des Radrennsports. Nicht nur, weil sie mehr Rennen gewannen als alle anderen, sondern weil sie in ihrer Zeit den Radsport revolutionierten.

Coppi war der erste, der sich der Medizin anvertraute. Ein Krankenkassen-Arzt wachte über ihn. Dasselbe tat auch Merckx.

Coppi war der erste, der ein Team aus Leader und Helfern zusammenstellte. Merckx gab starke Impulse, was die physische Vorbereitung des Sportlers betrifft.

Damit vereinigte der Belgier mit dem Übernamen “der Kannibale” das natürliche Talent des Fahrers mit der eisernen Disziplin des Trainings.

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