
«Gefährliches Präjudiz»

Der Freispruch des Churer Polizeikommandanten ist für Strafrechtsprofessor Franz Riklin "ein schwer verständliches Urteil und ein gefährliches Präjudiz".
Das Bündner Kantonsgericht beurteilt die Erschiessung eines Amokschützen in Chur durch die Polizei als Notwehr. Der «finale Rettungsschuss» sei verhältnismässig gewesen und der Polizeikommandant deshalb freizusprechen, entscheid das Gericht am Donnerstag.
Dieses Urteil stösst beim Freiburger Strafrechtler Franz Riklin auf Unverständnis. Er würde es deshalb begrüssen, wenn der Fall vor Bundesgericht beurteilt würde, bestätigte Riklin gegenüber dem «Tages-Anzeiger».
Alternativen zum Todesschuss
Dass es zum gezielten Todesschuss keine Alternative gab, bezweifelt er. Der Prototyp einer legitimen Erschiessung sei die Geiselnahme, etwa wenn sich ein Geiselnehmer zum verlangten Fluchtauto begebe und dabei seinem Opfer die Pistole an die Schläfe halte.
«Dann ist der gezielte Todesschuss gerechtfertigt, weil es zur Abwehr des drohenden Angriffs auf das Leben der Geiseln keine Alternative gibt.»
Im Churer Fall sei die Lage aber anders gewesen, erklärt Riklin weiter. In knapp 60 Metern Entfernung seien mehrere Scharfschützen in Stellung gewesen. «Diese hätten rechtzeitig schiessen können, wenn der Amokschütze konkrete Anstalten zum Schusswaffen-Gebrauch gemacht hätte.»
Belastende Aspekte
Sonderstaatsanwalt Robert Akeret hatte das Verfahren gegen Reinhardt ursprünglich einstellen wollen. Nach einem Entscheid der Beschwerde-Kammer wurde er zur Anklage-Erhebung gezwungen.
In Akerets Einstellungs-Verfügung kommen nach Ansicht Riklins die Aspekte, die den Polizeichef belasten, eher zu kurz. Möglicherweise habe hier die strukturbedingte Sympathie zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei eine Rolle gespielt.
Marcel Niggli, ebenfalls Strafrechtler an der Universität Freiburg, bezeichnet es seinerseits gegenüber der «Berner Zeitung» als wünschenswert, wenn sich die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren des Themas «finaler Rettungsschuss» annehmen und Richtlinien ausarbeiten würde.
Über die vom Anwalt der Familie des Getöteten eingereichte Adhäsionsklage für Genugtuung in der Höhe von 100’000 Franken muss auf dem zivilen Weg entschieden werden. Ob es dazu kommt, ist noch offen. Der Anwalt wartet die schriftliche Begründung des Urteils ab. Die Familie könnte beim Bundesgericht zudem eine staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil einlegen.
swissinfo und Agenturen

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