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Kein Schweizer Überwachungswahn

Überwachungskameras halfen, die Londoner Attentäre zu identifizieren: Ein Allerweltsheilmittel sind die Kameras aber nicht. Keystone

Die Attentäter von London konnten dank Bildern von Überwachungs-Kameras identifiziert werden. In Europa wird der Ruf nach neuen Anti-Terror-Massnahmen laut.

Nicht aber in der Schweiz: Notrecht hat keine Tradition, neue Gesetze müssen den langen Weg durchs Parlament nehmen.

“Wir müssen uns rüsten”, sagte der deutsche Innenminister Otto Schily und unterstützte damit die Vorschläge seines britischen Kollegen Charles Clarke. Dieser hatte am Mittwoch bei einer Sondersitzung in Brüssel zu den Anschlägen in London neue Massnahmen zur Terrobekämpfung gefordert. Insbesondere verlangt er, dass die Verbindungsdaten von Telekommunikationsmitteln ein Jahr lang von den Anbietern aufbewahrt werden müssen.

“Da geht es um Daten, deren Speicherung dringend geboten ist, weil wir auf diese Weise sehr viel bessere Ermittlungsmöglichkeiten haben”, erklärte Schily. Die Anschläge in der britischen Hauptstadt rissen am vergangenen Donnerstag fast 50 Menschen in den Tod.

Aus den Verbindungsdaten lässt sich herauslesen, wer wann und mit wem und wie lange telefoniert hat; ab Handy oder Festnetz; wer was im Internet gemacht hat oder wer wem SMS-Kurznachrichten oder Faxe geschickt hat. Der Inhalt der Mitteilungen wird hingegen nicht erfasst.

Für die Schweiz nichts Neues

“In Bezug auf die Aufbewahrung von Telekom-Verbindungsdaten sind wir heute dort, wo die EU hin will”, sagt Guido Balmer, Sprecher des Bundesamtes für Polizei (BAP) in Bern im Gespräch mit swissinfo. Das entsprechende Gesetz wurde bereits vor drei Jahren eingeführt. Allerdings beträgt die Dauer, in der die Daten aufbewahrt werden müssen, sechs Monate und nicht ein Jahr, wie es die EU-Minister wünschen.

“Manchmal reicht das fast nicht, zum Beispiel bei internationalen Ermittlungen in Fällen von Kinderpornografie im Internet”, gibt Balmer zu bedenken. Die Speicherung der Telekommunikationsdaten habe sich in der Verbrechensbekämpfung jedoch als taugliches Mittel erwiesen.

In der Schweiz ist der Ruf nach mehr Überwachung nach den neuesten Anschlägen nicht laut geworden. Auch das Anti-Terror-Gesetzespaket der damaligen Justziministerin Ruth Metzler nach den Anschlägen von New York und Washington ging im Parlament bachab. Der Bundesrat will jetzt aber eine längere Aufbewahrungsdauer der Daten prüfen.

Kein Notrecht

Dass hierzulande kein Notrecht eingeführt worden sei, habe mit der demokratischen Tradition der Schweiz zu tun, kommentiert Balmer. Es sei wichtig, dass zwischen Sicherheit und Freiheit sorgfältig abgewogen werden könne.

“Schon die Auswertung der Verbindungsdaten ist eine einschneidende Massnahme in die Persönlichkeitsrechte einer Person”, gibt er zu bedenken. Entsprechend seien heute auch die Möglichkeiten für präventive Informations-Beschaffung in der Schweiz eher gering.

Für den eidgenössischen Datenschutzbeauftragten Hanspeter Thür haben die Behörden bereits heute genug Möglichkeiten. An seiner Jahreskonferenz vor zwei Wochen warnte er vor einer überstürzten Verschärfung: “Es wäre gefährlich, wenn der Inland-Geheimdienst im Verborgenen Daten sammeln und Telefone abhören dürfte, für deren Richtigkeit er nie einen Beweis antreten müsste.”

Jede präventive Informationsbeschaffung müsse vom Datenschutz kontrolliert werden. Es sei ihm noch nicht hinreichend begründet worden, dass die Strafverfolgungs-Behörden mehr Kompetenzen brauchten.

Schweiz im Mittelfeld

Sogar eine flächendeckende Videoüberwachung wie es sie in London seit Jahren gibt, hält Balmer vom BAP nicht für ein Allerweltsheilmittel: “Auch wenn man überall Kameras hat, ist das nicht zwingend die Lösung.” Trotzdem: “Solche Bilder sind sicher wertvoll.”

Balmer kann sich auch vorstellen, dass auch in der Schweiz – wie nach den Anschlägen in London – Privatpersonen von der Polizei aufgefordert würden, Handykamera-Bilder an die Behörden zu übermitteln. “Aber eigentlich ist das nichts anderes, als ein Zeugenaufruf, wie wir das schon lange machen.”

“Bei der Terrorbekämpfung steht die Schweiz international nicht ganz an der Spitze, vielleicht aber im Mittelfeld”, erklärt Balmer. Die Stärke der Schweizer Terror-Abwehr sieht er nicht in einzelnen, technischen Massnahmen, sondern im ganzen Strauss der Möglichkeiten.

“Verbindungsdaten, Videobilder und andere Daten sind nur ein Teil. Zusammen mit der Arbeit des Staatschutzes, der Polizei und der Bewachung ausländischer Botschaften signalisieren sie möglichen Terroristen, dass es Sicherheitsorgane mit den nötigen Mitteln gibt. Das hat einen generalpräventiven Effekt.”

swissinfo, Philippe Kropf und Agenturen

Am 7. Juli 2005 zündeten vier mutmassliche Selbstmordattentäter in London vier Bomben in der U-Bahn und in einem Bus.

Rund 53 Menschen kamen ums Leben, über 700 wurden verletzt.

Dank Bildern von Überwachungskameras konnten die Attentäter schnell identifiziert werden.

Die EU-Innenminister wollen alle Verbindungsdaten von Telefon, Handy, Fax und Internet ein Jahr lang speichern lassen. Das soll im Anti-Terror-Kampf helfen.

Zu den Verbindungsdaten gehören die Angaben, war wann mit wem telefoniert, gefaxt oder gemailt hat, welche Webseiten besucht oder SMS verschickt wurden.

Die Schweiz speichert diese Daten bereits seit dem Jahre 2002, allerdings nur für sechs Monate.

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