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Überlingen-Crash: Skyguide vor Gericht

1. Juli 2002: Die Flugzeugkollision bei Überlingen kostet 71 Mensch das Leben. Keystone

Pflichtwidrigkeit und Nachlässigkeit bei der Schweizer Flugsicherung Skyguide sollen 2002 zum Flugzeugunglück bei Überlingen am Bodensee geführt haben. 71 Menschen kamen ums Leben.

Dies geht aus der vom Bezirksgericht Bülach veröffentlichten Anklageschrift hervor. Der Prozess beginnt am Dienstag und dauert etwa zwei Wochen.

Für die acht Angeklagten – darunter ein Fluglotse, der zum Zeitpunkt des Unglücks Pause gemacht hatte – verlangt Staatsanwalt Bernhard Hecht bedingte Freiheitsstrafen von 6 bis 15 Monaten. Hecht fordert Schuldsprüche wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs.

Die Angeklagten weisen die Verantwortung für das Unglück zurück. Sieben von ihnen sind noch bei Skyguide angestellt, einer ist im Ruhestand.

In 11 Kilometer Höhe zusammengeprallt

Der Flugzeug-Crash vom 1. Juli 2002, der 71 Menschenleben kostete, ereignete sich im deutschen Bodenseegebiet im Zuständigkeitsbereich der schweizerischen Flugsicherungsfirma Skyguide. In einer Höhe von 11’300 Metern stiess nachts um 23.35 Uhr ein Tupolew-Passagierflugzeug der russischen Bashkirian Airline mit einem Boeing-Frachtflugzeug der deutschen DHL zusammen.

Alle 69 Insassen der bashkirischen Maschine sowie die beiden Piloten des Fracht-Jets kamen ums Leben. Unter den Passagieren des russischen Flugzeugs befanden sich 49 Kinder und Jugendliche, die zusammen mit ihren Begleitpersonen in Spanien ihre Ferien verbringen wollten.

Der Flugverkehrsleiter, der zum Unglückszeitpunkt im Skyguide-Kontrollzentrum in Zürich-Kloten Dienst hatte, ist im Februar 2004 von einem Mann, der beim Absturz Frau und Kinder verloren hatte, an seinem Wohnort in Kloten erstochen worden.

Ein Jahr später wurde der Russe Vitaly Kaloyev der vorsätzlichen Tötung schuldig befunden.

Vermeidbare Katastrophe

Den Crash führt der Ankläger auf Pflichtwidrigkeiten und Nachlässigkeiten bei Skyguide zurück. Die Katastrophe wäre zu vermeiden gewesen, heisst es in der Anklage.

Staatsanwalt Hecht kritisiert unter anderem die von der Skyguide-Geschäftsleitung tolerierte, aber vom Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) und vom Büro für Flugunfalluntersuchungen gerügte Praxis, dass ab 23 Uhr jeweils nur einer von zwei eingeteilten Fluglotsen arbeitete und der andere bis am frühen Morgen Pause machte.

Gemäss Anklage war der allein arbeitende Fluglotse überlastet, und die Flugsicherheit in dem von Skyguide überwachten Luftraum nicht gewährleistet.

Mangelhafte Information

Die in der Unglücksnacht eingeteilten Fluglotsen hätten sich vor Arbeitsbeginn nicht über die aktuellen Arbeitsbedingungen erkundigt. Dabei standen ihnen laut Anklage wegen technischer Arbeiten an mehreren Systemen nur ein ungenaues Reserve-Radarsystem und für den Kontakt mit umliegenden Flugleitstellen ein Telefon-Notsystem zur Verfügung, das dann nicht funktionierte.

Umgekehrt wurden sie weder vom Chef der vorherigen Schicht noch vom System-Manager informiert. Schon vor den technischen Arbeiten war laut Anklage die Information von Fluglotsen und umliegenden Flugleitstellen mangelhaft, insbesondere über den Ausfall der Telefonanlage.

Keine Anklage gegen damaligen Skyguide-Chef

Gegen Skyguide-Chef Alain Rossier, der im Dezember 2006 mit sofortiger Wirkung zurückgetreten war, wurde keine Anklage erhoben.

Der Grund dafür ist für Staatsanwalt Bernhard Hecht relativ klar, wie er gegenüber swissinfo erläuterte. Bei einem Fahrlässigkeitsdelikt müsse eine adäquate Kausalität zwischen den Handlungen oder Unterlassungen, die jemand begangen hat, und den Folgen bestehen, also dem Zusammenstoss der Flugzeuge. “Und dieser Zusammenhang kann Herrn Rossier nicht nachgewiesen werden.”

Eine Untersuchung habe ergeben, dass er keine Kenntnisse über die technischen Arbeiten in der Unfallnacht hatte. “Damit war Herr Rossier auch nicht verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die personelle Besetzung erhöht werden muss”, so Hecht.

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

1.7.2002: Beim Crash einer Bashkirian Airlines (BAL)-Passagiermaschine und einem DHL-Frachtflugzeug über Überlingen am Bodensee sterben alle 71 Insassen der Maschinen. Die für den Luftraum zuständige Schweizer Flugsicherung Skyguide wird kritisiert.

27.6.03: Die Schweiz, Deutschland und Skyguide bilden einen Entschädigungspool für die Hinterbliebenen der Opfer.

24.2.04: In Kloten wird der Skyguide-Fluglotse, der zur Crash-Zeit allein gearbeitet hatte, erstochen. Täter ist ein Russe, der bei der Katastrophe seine Familie verlor. Er wird später zu 8 Jahren Zuchthaus verurteilt.

19.5.04: Die deutsche Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung kritisiert Skyguide und die BAL-Crew.

5.7.04: Die Staatsanwaltschaft Konstanz ermittelt gegen Skyguide.

20.2.05: Angehörige der Opfer verklagen Skyguide und BAL auf Genugtuung.

29.6.05: BAL verklagt Deutschland wegen mangelnder Flugsicherung auf Schadenersatz.

27.7.06: Das Landgericht Konstanz gibt der BAL-Klage statt und verurteilt Deutschland zu Schadenersatz. Die Hauptschuld liege indes bei Skyguide. Deutschland legt Berufung ein.

7./8.8.06: Die Staatsanwaltschaft Konstanz tritt das Strafverfahren gegen Skyguide-Mitarbeiter an die Schweiz ab. Die Staatsanwaltschaft Winterthur erhebt Anklage gegen 8 Skyguide-Mitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung. Sie fordert Haftstrafen zwischen 6 und 15 Monaten.

18.12.06: Skyguide einigt sich mit Angehörigen von 30 Absturz-Opfern auf Entschädigung in unbekannter Höhe. Die Familien der restlichen 41 Opfer waren früher entschädigt worden.

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