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Umstrittener Sterbehelfer vor irdischen Richtern

Erfolgte der Griff zum tödlichen Medikament aus freiem Willen? imagepoint

Das Basler Strafgericht verhandelt derzeit gegen einen Psychiater, dem vorgeworfen wird, drei psychisch kranke Menschen bei der Selbsttötung unterstützt zu haben. Diese sollen teilweise nicht mehr urteilsfähig gewesen sein.

Ständerat und Ethikkomission plädieren für eine staatliche Aufsicht über die Sterbehilfe. Die Schweiz kennt auf diesem Gebiet eine sehr liberale Praxis.

Die Anklage gegen den 72-jährigen Zürcher Psychiater Peter Baumann lautet auf vorsätzliche Tötung, mehrfache Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord sowie Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz.

Vor dem Basler Strafgericht werden drei Suizidfälle aus den Jahren 2001 bis 2003 verhandelt. Der Staatsanwalt forderte für den Angeklagten sieben Jahre Freiheitsentzug. Er warf dem Präsidenten des Vereins SuizidHilfe Schweiz vor, in drei Fällen von Sterbebegleitung aus Eingennutz gehandelt zu haben. Das erstinstanzliche Urteil wird Ende Woche erwartet.

Exit, die grösste Schweizer Sterbehilfeorganisation, hatte es in allen drei Fällen abgelehnt, die Sterbewilligen in den Tod zu begleiten. Sie stellte unter anderem deren Urteilsfähigkeit in Frage – für die Organisation die wichtigste Voraussetzung für einen begleiteten Suizid.

Urteilsfähig?

Im Fall eines damals 46-jährigen Mannes, den Baumann 2001 in den Tod begleitete, lautet die Frage denn auch: War der Sterbewillige, der jahrelang unter Zwangneurosen gelitten hatte, vor seinem Tod überhaupt urteilsfähig? Nein, findet der Basler Staatsanwalt und plädiert deshalb auf vorsätzliche Tötung.

Im Falle einer 60-jährigen Frau, auch sie mit psychischen Problemen, ist Baumann der Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord angeklagt. Der Staatsanwalt legt dem pensionierten Psychiater auch “selbstsüchtige Motive” zur Last, denn Baumann habe bei der Frau eine neue , besonders grausame Suizid-Technik erprobt und die Sterbebegleitung durch ein Team des Schweizer Fernsehens dokumentieren lassen.

Baumann muss sich zudem im Fall eines 85-jährigen Rentners verantworten. Der Angeschuldigte bestreitet aber hier seine Täterschaft.

“Menschlich einfühlbar”?

Baumanns Auffassung von Sterbehilfe ist umstritten. Er war Mitglied der Sterbehilfe-Organisation Exit, bis er 2002 den Verein Suizidhilfe gründete. Dieser vertritt den Grundsatz, “kein Ersuchen um Beihilfe zum Suizid mehr ablehnen zu müssen, wenn der Wunsch uns menschlich einfühlbar und verständlich ist”.

Demgemäss sind Ärzte, Ethiker, Juristen und weitere Experten vom Entscheid über Leben und Tod ausgeschlossen. Denn laut Baumann spürt jeder lebenserfahrene Mensch, ob der Todeswunsch tatsächlich bestehe.

Zweitmeinung Pflicht

Im Schweizerischen Strafgesetzbuch (StGB) ist die Sterbehilfe in zwei Paragraphen geregelt: Eine Tötung auf Verlangen aus achtenswerten Beweggründen wird mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren sanktioniert. Und: Auf einer Verleitung zur Selbsttötung aus selbstsüchtigen Motiven stehen maximal fünf Jahre Gefängnis.

Für Christoph Rehmann, Präsident der Nationalen Ethikkommission (NEK), bieten diese “relativ wenig rechtliche Handhabe”, um gegen ethisch fragwürdige Fälle von Sterbehilfe vorzugehen.

Die NEK verlangt deshalb für Sterbehilfe-Organisationen eine staatliche Aufsicht in Form einer Meldepflicht. Die Tätigkeit der Organisationen ist an Kriterien gebunden, wie beispielsweise die Urteilsfähigkeit des Klienten und eine lange und intensive Betreuung durch den Sterbehelfer.

Dieser muss zudem beurteilen können, ob der Sterbewunsch dauerhaft oder Ausdruck einer momentanen Krise ist. Vorgesehen ist auch eine obligatorische Zweitbegutachtung.

Regierung sieht keinen Handlungsbedarf

Der Meinung der Ethikkommission schloss sich in der jüngsten Sommersession auch der Ständerat, die kleine Parlamentskammer, an, der eine Motion von Hansruedi Stadler überwies. Der Urner Christdemokrat will dem “Sterbetourismus” von Suizidwilligen aus dem Ausland einen Riegel schieben, der dank des liberalen Schweizer Gesetzes eingesetzt habe.

Folgt der Nationalrat, die grosse Kammer, dem Ständerat, muss die Regierung gegen ihren Willen ein neues Gesetz ausarbeiten. Justizminister Christoph Blocher stellte sich in der Debatte auf den Standpunkt, es sei Sache von Kantonen und Gemeinden, das Straf- und das Gesundheitsrecht konsequent anzuwenden. Ein neues Gesetz würde im Gegensatz Fremdtötungen fördern.

Vom Basler Strafgericht wird ein Präzedenzurteil erwartet, das umschreibt, wann ein Sterbehelfer aus selbstsüchtigen Beweggründen handelt sowie ob und wann psychisch kranke Menschen urteilsunfähig sind.

swissinfo, Renat Künzi

Sterbehilfe-Organisation haben 2006 in der Schweiz mehr als 350 Menschen in den Tod begleitet.
Es gibt fünf Organisation, die grössten sind Exit und Dignitas.
Exit (50’000 Mitglieder) 2006: 150 Sterbebegleitungen (nur Schweizer Bürger).
Dignitas (5000 Mitglieder) 2006: 195 Sterbebegleitungen, davon 120 an Deutsche.

Schweiz: Sehr liberale Praxis. Passive Euthanasie (Einstellen einer Therapie, Abstellen von Maschinen) nicht strafbar. Aktive Euthanasie gilt als Tötung und ist strafbar.

Deutschland: Suizidbeihilfe ist Ärzten untersagt.

Frankreich: Passive Euthanasie ist Ärzten und Angehörigen künftig erlaubt. Aktive Euthanasie aber weiterhin verboten.

Italien: Weder aktive noch passive Sterbehilfe sind erlaubt.

Niederlande und Belgien: Aktive Euthanasie ist unter bestimmten Bedingungen erlaubt.

England: Restriktivste Regelung in Europa. Sterbehilfe ist gesetzlich nicht vorgesehen (“Sterbetourismus”).

Direkte aktive Sterbehilfe: Gezielte Tötung durch Drittperson zur Verkürzung von Leiden.

Indirekte aktive Sterbehilfe: Lindern von Leiden mit Medikamenten, welche die Lebensdauer verkürzen können.

Passive Sterbehilfe: Abbruch von lebenserhaltenden Massnahmen oder Verzicht darauf.

Suizidhilfe: Eine Drittperson oder Sterbehilfeorganisation vermittelt dem Patienten eine tödliche Substanz. Diese nimmt der Kranke selbst ein.

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