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Mit fremden Augen

Der philippinische Pharmazieprofessor Romeo Quijano im Gespräch mit einem Bergbauer. Sabine Gisiger/Dschoint Ventschr

Sieben Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstlerinnen aus Ländern des Südens und des Ostens haben die Schweiz bereist und Feldforschung betrieben.

Das Expo.02-Projekt “Die sieben Weisen” glich einer Entdeckungsreise mit fremden Fremdenführern.

“Die Schweizer sind zwar sehr ruhig, aber überhaupt nicht langweilig. Das hat mich wirklich überrascht,” meint der indische Schriftsteller Ramachandra Guha am Ende seiner dreiwöchigen Forschungsreise durch die Schweiz.

Guha untersuchte die Lebensbedingungen der Tamilen in der Schweiz. Er besuchte sie in ihrem Tempel in Adliswil, bei der Wallfahrt zur Schwarzen Madonna in Einsiedeln, beobachtete sie beim Kricket in Bern. “Die Tamilen sind hier, weil die Schweiz gegenüber Flüchtlingen gastfreundlicher oder zumindest weniger grausam ist als andere europäische Länder”, bilanziert Guha.

Das letzte Tabu

Die sieben Weisen waren eingeladen, ihre Reise “ohne wissenschaftlichen Anspruch, aber mit scharfer Feder und ironischem Blick” zu dokumentieren. Ihre Schlussfolgerungen präsentierten sie jeweils an Bord des Schiffes AMJ, der “Arteplage mobile du Jura” der Expo.02.

Am letzten Samstag ging unter dem Titel “La Suisse à la fin”, die Schweiz am Ende, der Reigen der sieben Weisen in Yverdon zu Ende. Die senegalesische Soziologin N’deye Baté Cissokho berichtete Bundesrätin Ruth Dreifuss kurz vor deren Rücktrittserklärung über ihre Einsichten zum Thema Abschied und Tod.

“Anders als in Senegal ist der Tod in der Schweiz eine private Angelegenheit.” Cissokho traf während ihrer Reise Sterbebegleiter, Geistliche, Friedhofsgärtner sowie trauernde Angehörige. Nur den Tod traf sie nirgendwo.Schockiert zeigte sich die praktizierende Muslimin anlässlich einer Diskussion über Sterbehilfe in einem Genfer Altersheim. “Selbstmord ist in Senegal ein Tabu.”

Noch etwas anderes ist der senegalesischen Soziologin aufgefallen. Obwohl die Schweiz ein reiches Land sei, würden sich die Schweizer nicht wie Reiche benehmen. In ihrer Heimat seien Reiche in der Regel arrogant.

Intifada der Gefühle

Wie sich das reiche Volk vergnügt, untersuchte die palästinensische Filmemacherin Ula Tabari. Ihre Freunde in Nazareth hegten allerdings Zweifel, ob sich die Schweizer wirklich vergnügen könnten, da sie nicht wüssten, was leiden heisst.

Tabari zog auf der Suche nach Orten des Vergnügens mit ihrer Videokamera durch Schrebergärten und Nachtklubs. “Pleasure is what we sell here every night”, brachte der Türsteher eines bekannten In-Lokals in Zürich sein Verständnis von Vergnügen auf den Punkt. Wie Tabari herausfand, kann sich die Schweiz auch in Sachen Oberflächlichkeit durchaus mit anderen Konsum-Gesellschaften messen.

Am Ende ihrer Reise traf die Palästinenserin auf Alt Bundesrat Adolf Ogi. Die Schweiz brauche eine gefühlsmässige Intifada meinte Tabari. Ogi liess sich provozieren und verwehrte sich gegen derartige Ratschläge aus dem Ausland. Statt sich auf eine Debatte über die gefühlsmässige Verarmung der Schweiz einzulassen, pries der Alt Bundesrat ihre Errungenschaften.

Vorbild mit Rissen

Die Schweiz gelte mit ihren Institutionen, ihrer Mehrsprachigkeit und Multikulturalität für die jungen Demokratien Osteuropas als positives Vorbild, betont Smaranda Enache, engagierte Kämpferin für Menschenrechte und interkulturelle Verständigung aus Siebenbürgen, Rumänien. Die ehemalige rumänische Botschafterin in Finnland war eingeladen, die Schweiz der Jurassier zu erforschen.

Die Schaffung des Kantons Jura sei aus osteuropäischer Perspektive ein Sieg der Vernunft. Enache erwartete im Jura einen demokratisch geläuterten Nationalismus anzutreffen und untersuchte das Verhältnis von Identität und Nationalismus. Zu ihrer Enttäuschung stellte sie jedoch fest, dass sich der jurassische Nationalismus im Kern nicht vom Nationalismus in anderen Staaten unterscheidet. “Trotz aller Unterschiede trägt der Nationalismus überall die gleichen Züge: Er ist ein Attentat auf die Menschenwürde”, schreibt Enache in ihrem Reisetagebuch (siehe Link).

Bei der Abschlussveranstaltung auf der AMJ wurde deutlich, dass es mit der Schaffung des Kantons Jura zwar auf einmalige Art und Weise gelungen ist, einen Minoritäten-Konflikt zu entschärfen. Aber auch, dass sich in den Köpfen der jurassischen Nationalisten inzwischen nur wenig geändert hat.

Überrascht hat Enache auch, dass sie von den Jurassiern offen empfangen wurde solange sie Französisch sprach; sie aber stets auf Ablehnung stiess, wenn sie Deutsch sprach. In ihrer Heimat Siebenbürgen sei es eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Leute auf Rumänisch und Ungarisch verständigen. Die internen Spannungen zwischen Romands und Deutschschweizern waren ihr nicht bekannt.

Unterschiede akzeptieren

Projektleiter Daniel Hitzig ist sehr zufrieden mit den “sieben Weisen”. Natürlich seien die gewonnenen Einsichten nicht wirklich neu, dafür sei der Aufenthalt zu kurz gewesen. “Doch im Rahmen der sieben Weisen kam es vom Bündnerland bis in die Bankenmetropole, vom Direktor bis zum Drogenabhängigen zu Begegnungen, die sonst nicht stattgefunden hätten.”

Die stärksten Momente seien immer dann gewesen, wenn Welten aufeinander prallten. Wo es deutlich wurde, dass die Unterschiede bestehen bleiben und man dies akzeptieren müsse.

Überraschende Offenheit

Das Projekt der sieben Weisen hat Spuren hinterlassen und auch die Schweizer Beteiligten an Orte geführt, die ihnen bisher unbekannt waren. “Überrascht hat uns immer wieder die grosse Offenheit, mit der die Leute den Weisen begegnet sind und ihnen Auskunft gegeben haben”, sagt die Dokumentarfilmerin Sabine Gisiger, die die Weisen auf ihren Reisen begleitete.

Während dem Projekt habe sie plötzlich Stolz gespürt auf dieses Land und über das, was alles möglich sei. Auch Hitzig erlebte die Schweiz viel offener als erwartet. “Ich kann gut verstehen, dass die ausländischen Gäste das Land als Erfolgsgeschichte beschreiben.” Der Kontrapunkt zum Expo-Trubel kam auch beim Publikum gut an. Denn anders als in vielen Pavillons wurde hier viel Inhalt geboten und war die Schweiz das Thema.

swissinfo, Hansjörg Bolliger

Die sieben Weisen und ihre Themen:

Romeo Quijano (Philippinen), Globalisierte Landwirtschaft

Smaranda Enache (Rumänien), Nationalismus

Ula Tabari (Israel/Palästina), pleasure.ch

Andrey Ryabov (Russland), Neutralität und humanitäre Aktion

Ramachandra Guha (Indien), Exil und Migration

Eliana Rolemberg (Brasilien), Reichtum und Armut

N’deyebaté Cissoko (Senegal), Abschied und Tod

Das Expo.02-Projekt “Die sieben Weisen” wurden von Schweizer Hilfswerken und NGOs finanziell unterstützt.

Die Filmerin Sabine Gisiger hat die Weiesn auf ihren Entdeckungsreisen begleitet. Ein einstündiger Dokumentarfilm ist in Produktion.

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