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Anerkennung der muslimischen Glaubensgemeinschaft ist umstritten

“Lieber gesellschaftliche als rechtliche Anerkennung”

Muslime sind in der Schweiz die drittgrösste Glaubensgemeinschaft. Aber im Unterschied zu den christlichen Landeskirchen sind sie nicht öffentlich-rechtlich anerkannt. Wichtiger wäre den Muslimen aber die Akzeptanz in der Gesellschaft, sagt ein Experte.

Ausgangslage

In der Schweiz gibt es zwei Formen der Anerkennung: die privatrechtliche, “kleine” Anerkennung, die eher symbolischen Charakter hat. Sie ist in acht Kantonen möglich. Aber nur die öffentlich-rechtliche Anerkennung erlaubt einer religiösen Institution, Steuern zu erheben. Weil die Kantone nicht eine Religion – also den Islam –, sondern eine konkrete Organisation (wie etwa die reformierte Kirche) anerkennen, stellt sich die Frage, welche der zahlreichen muslimischen Glaubensgemeinschaften dafür überhaupt in Frage käme.  

Ausserdem findet die Anerkennung auf kantonaler Ebene statt. Deshalb kommen primär kantonale muslimische Dachorganisationen in Frage. Die Föderation Islamischer Dachorganisationen Schweiz (FIDS), die indirekt rund zwei Drittel der Schweizer Moscheevereine vertritt, führt die juristische Anerkennung in ihren Statuten von 2016 nicht als Ziel auf.

Wenn muslimische Glaubensgemeinschaften – wie die christlichen Landeskirchen – öffentlich-rechtlich anerkannt wären, könnten sie hierzulande bei ihren Mitgliedern Steuern einziehen. Das würde für mehr Transparenz sorgen.

Aber das ist einfacher gesagt als getan. Deshalb wohl habe das Thema der juristischen Anerkennung in den letzten drei, vier Jahren für die Vertreterinnen und Vertreter muslimischer Verbände an Gewicht verloren, sagt Religionswissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti von der Universität Luzern. Viele von ihnen hätten erkannt, dass der Weg zu einer Anerkennung viele Jahre dauern würde und das Ergebnis offen sei.

swissinfo.ch: Bisher hat in keinem einzigen Kanton eine muslimische Organisation eine öffentlich-rechtliche Anerkennung beantragt. Warum nicht?

A.T.: Einzig der kantonale Dachverband in der Waadt hat 2018 ein konkretes Gesuch eingereicht. Er strebt aber nur die sogenannte kleine – vorwiegend symbolische – Anerkennung an, also ohne Besteuerungsrecht. Manche kantonalen muslimischen Dachverbände, etwa in Zürich und Luzern, nennen die öffentlich-rechtliche Anerkennung weiterhin als ein Ziel, verfolgen diese aber nicht mit höchster Priorität.

Vielen Kantonen fehlen ausserdem die gesetzlichen Grundlagen.

swissinfo.ch: Wie gross ist der politische Widerstand gegen solche Bestrebungen?

A.T.: Weil es bisher in keinem Kanton konkrete Bemühungen um eine öffentlich-rechtliche Anerkennung gab, die auch das Besteuerungsrecht [Kirchen- bzw. Moscheesteuer] umfassen würde, hatten skeptisch eingestellte Akteure noch keinen Anlass, sich zu formieren.

Gelegentlich ist in muslimischen, aber zum Beispiel auch in christlich-orthodoxen Kreisen die Auffassung zu hören, dass Geld, das vom Staat oder aus einem eigenen Besteuerungsrecht stammt, sei gar nicht unbedingt wünschenswert. Denn dank dem hohen freiwilligen Engagement der Mitglieder habe man heute schon ein lebendiges Gemeindeleben; einzig die gesellschaftliche Anerkennung vermisse man.

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swissinfo.ch: Was möchte die Mehrheit der Muslime?

A.T.: Mangels repräsentativer Umfragen ist schwer abzuschätzen, was die Mehrheit der religiös aktiven Musliminnen und Muslime in dieser Frage möchte. Dem Gesuch um die kleine Anerkennung im Kanton Waadt war 2015 ein basisdemokratischer Prozess vorausgegangen, der ergab, dass eine deutliche Mehrheit das Gesuch befürwortet.

Bisher kennen aber nur sehr wenige Kantone die “kleine” [privatrechtliche] Anerkennung.

swissinfo.ch: Welche Anliegen sind für die muslimischen Glaubensgemeinschaften derzeit wichtiger als ein bestimmter rechtlicher Status?

A.T.: Eine Anerkennung im Sinn einer gesellschaftlichen Akzeptanz. An der Basis, in den muslimischen Vereinen, nehme ich den Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung als noch stärker wahr. Punktuell wird sie auch bereits erfahren, nämlich überall dort, wo ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft und mit lokalen Behörden, Kirchen und Vereinen herrscht.

Weiter oben auf der Prioritätenliste der kantonalen muslimischen Dachorganisationen rangieren derzeit praktische Fragen wie zum Beispiel muslimische Seelsorge in öffentlichen Institutionen, insbesondere Spitälern, und die Ausbildung qualifizierten Personals für diese Aufgaben.

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