The Swiss voice in the world since 1935
Top Stories
Schweizer Demokratie
Newsletter

Was will die «Neutralitätsinitiative» an der Schweizer Politik ändern?

Ein Fallschirmaufklärer mit einer Schweizer Fahne in der Luft, Berge im Hintergrund
Die Neutralität als Kompass: In welche Richtung soll es gehen? Christian Merz / Keystone

Die Neutralitätsinitiative will eine strikte Auslegung der Schweizer Neutralität in der Verfassung verankern. Was würde dies für die Schweizer Aussen- und Sicherheitspolitik bedeuten?

Was will die Neutralitätsinitiative?

Die Neutralitätsinitiative ist eine Volksinitiative, über welche die Schweizer Bürger:innen 2026 abstimmen werden. Stimmt eine Mehrheit der Bevölkerung und der Kantone für die Initiative würde die Schweiz die «immerwährende und bewaffnete» Neutralität in der Verfassung festschreibenExterner Link.

Bisher heisst es zur Neutralität in der Verfassung, dass Bundesrat und Parlament für die Neutralität zuständig seien. Dies gab der Schweiz die Flexibilität, ihre Neutralität über die Jahrzehnte hinweg den geopolitischen Umständen anzupassen. Dies würde durch die Initiative eingeschränkt.

So will die Initiative explizit festschreiben, dass die Schweiz keinem Militärbündnis beitreten darf. Dies ist für neutrale Staaten zwar schon unter dem Neutralitätsrecht ausgeschlossen. Ein Beitritt zur NATO, wie es etwa Schweden und Finnland 2023 getan haben, beendet den neutralen Status. Im Schweizer System wäre ein solcher Beitritt bereits jetzt erst nach einer Volksabstimmung möglich.

Sicherheitspolitisch könnte die Schweiz aufgrund der Initiative gezwungen sein, ihre Kooperation, etwa die «Partnerschaft für den Frieden»Externer Link, an der die Schweiz seit 1996 beteiligt ist, mit der NATO zurückzubauen.

Die weitgehendste Änderung aber stellt das Verbot «nichtmilitärischer Zwangsmassnahmen» dar: Damit wäre es der Schweiz nicht mehr möglich, eigenständig Sanktionen gegen kriegsführende Staaten zu verhängen – die einzige Ausnahme wären UNO-Sanktionen. Diese werden vom UNO-Sicherheitsrat beschlossen.

Historisches Bild des Wiener Kongresses
1815 wird Europa am Wiener Kongress neu aufgeteilt. Dies unter Führung der vier Siegermächten Österreich, Preussen, Russland und Grossbritannien und später auch Frankreich. Keystone

Was macht die Schweizer Neutralität heute aus?

Sie ist selbstgewählt, es ist keine völkerrechtliche Verpflichtung. Sie kann aufgehoben werden. Sie ist bewaffnet – die Armee dient der Selbstverteidigung. Sie ist international anerkannt. Die Neutralität beschränkt sich auf militärische Begünstigung. Diplomatisch und wirtschaftlich darf die Schweiz auch mit kriegsführenden Staaten zusammenarbeiten.

Woher kommt die Schweizer Neutralität?

Die Schweiz gehört zu den Staaten mit dauernder Neutralität, wie zum Beispiel auch Österreich oder Irland.

Die Schweiz ist heute jenes Land, dessen Neutralität am weitesten zurückreicht. Erstmals international anerkannt wurde die Schweizer Neutralität am Wiener Kongress 1815, als sich die umliegenden Staaten einigten, dass die «immerwährende Neutralität» der Schweiz im gegenseitigen Interesse der umliegenden Länder liege.

Heute fusst die Schweizer Neutralität rechtlich auf dem Haager Abkommen, das die Schweiz 1910 unterzeichnete. Das Abkommen ist Teil des Völkerrechts und legt fest, wie sich ein neutraler Staat im Falle eines Krieges zwischen zwei Ländern verhalten soll: Er darf an keinem bewaffneten Konflikt teilnehmen und die kriegsführenden Parteien nicht einseitig militärisch begünstigen. Politische Positionsnahmen oder Wirtschaftssanktionen sind weiterhin möglich.

Mehr

Um die «Unverletzlichkeit seines Territoriums» sicherzustellen, darf ein neutraler Staat wie die Schweiz mit anderen Staaten militärisch zusammenarbeiten – zum Beispiel beim Import von Waffen. Neutrale Staaten dürfen allerdings keinem Verteidigungsbündnis beitreten, bei dem sie in Konflikten den Verbündeten beistehen müssen. Die NATO kennt eine solche Beistandsklausel.

Das Neutralitätsrecht ist eindeutig. Gross ist der Spielraum hingegen in der sogenannten «Neutralitätspolitik».

Was ist die «Neutralitätspolitik»?

Die «Neutralitätspolitik» umfasst das, was die Schweiz tut, um die Neutralität sicherzustellen und ihre Glaubwürdigkeit international zu fördern. Die Schweiz hat die Ausgestaltung ihrer Neutralität immer wieder den Umständen angepasst: Im Kalten Krieg war sie beispielsweise sehr eng gefasst. Die Schweiz war beim Beitritt zu internationalen Organisationen – wie etwa 1963 dem Europarat – sehr zögerlich.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion leitete für die Schweizer Neutralitätspolitik dann eine neue Phase ein: Ab 1993Externer Link war die Schweizer Aussenpolitik vom Grundsatz geleitet, dass internationale Sicherheit am besten durch Kooperation erreicht werde.

Wie beeinflussen die gegenwärtigen Kriege und Konflikte die Diskussion um die Schweizer Neutralität?

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar 2022 hat in der Schweiz heftige Debatten über die Neutralität ausgelöst. Die Schweiz hat die meisten Sanktionen der EU gegen Russland übernommen. Manchen in der Schweiz gehen die politischen Massnahmen gegen Russland als Aggressor nicht weit genug.

Andere, darunter Christoph Blocher, der lange den Kurs der rechtskonservativen SVP geprägt hat, bezeichneten Wirtschaftssanktionen als «Kriegsmittel». Er forderte, die Schweiz solle zu einer integrativen Neutralität wie in den dreissiger Jahren zurückkehren, die Sanktionen ausschliesst. Aus dieser Idee heraus ist die «Neutralitätsinitiative» entstanden.

Mehr

Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Giannis Mavris

Welche Zukunft hat das Schweizer Neutralitätsmodell?

Kann es in Zeiten der Blockbildung und des geopolitischen Antagonismus überhaupt einen neutralen Weg geben?

396 Likes
291 Kommentare
Diskussion anzeigen

In welcher Tradition steht diese Volksinitiative?

«Die Schweiz gibt ihre Neutralität Stück für Stück auf», heisst es auf der WebsiteExterner Link der Neutralitäts-Initiative. Dies passiere, neben der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland, durch die Annäherung an die NATO.

Hinter der «Neutralitätsinitiative» steht – neben Einzelpersonen wie dem ehemaligen Fifa-Präsidenten Sepp Blatter und Politiker:innen aus dem rechten politischen Spektrum – vor allem der Verein «Pro Schweiz»Externer Link. Der Verein ist 2022 aus der AUNS (Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz) hervorgegangen. Dieser Zusammenschluss entstand in den 1980er-Jahren auf Initiative von Christoph Blocher aus einem Komitee, das damals erfolgreich einen Schweizer UNO-Beitritt verhinderte. In der Folge gehörte die AUNS zum Bündnis, das sich 1992 erfolgreich gegen einen Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum einsetzte.

Auch «Pro Schweiz» ist dezidiert EU-kritisch. So lobbyiert der Verein gegen das neu geplante Vertragspaket zwischen der Schweiz und der EU.

Im Zuge der europäischen Integration sei die Schweizer «Staatsmaxime» – also, dass sich die Schweiz unideologisch aus Konflikten raushalten solle – in Frage gestellt worden, heisst es im Argumentarium der InitiativeExterner Link.

Eine Gruppe von Befürwortern für die Neutralitätsinitiative
Die Einreichung der eidgenössischen Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)», am 11. April 2024. Die Initiative hat mehr als 130’000 Unterschriften gesammelt. Anthony Anex / Keystone

Wie steht die Schweizer Regierung zur Neutralitätsinitiative?

Die Schweizer Regierung hat sich gegen die Initiative gestellt, aber in ihrer Botschaft zum Thema gleichwohl betont, dass sie «vom Wert der Neutralität für die Schweiz überzeugt» sei. Doch die Initiative bedeute ihrer Meinung nach eine «Abkehr von der bewährten Flexibilität bei der Anwendung der Neutralität». Konkret würde eine Annahme der Neutralitätsinitiative den Spielraum des Bundesrats in der Aussenpolitik, vor allem im Bereich von Wirtschaftssanktionen, einschränken.

Was sagen Expert:innen zur Neutralitätsinitiative?

«Wird strikte Neutralität der Schweiz dienen?»,Externer Link fragte Constanze Stelzenmüller an einer Anhörung in der Aussenpolitischen Kommission im Schweizer Ständerat. Die deutsche Juristin, die beim Brookings Institute, einer Denkfabrik in Washington D.C., tätig ist, kam zur Analyse, dass es der Schweiz bisher gut getan habe, als neutraler Staat gewisse Kooperationen mit anderen Staaten einzugehen. Insofern fragt Stelzenmüller, ob die Neutralitätsinitiative das richtige Instrument sei, um die Schweizer Sicherheit und Souveränität zu garantieren.

Der Schweizer Politikwissenschaftler Wolf Linder hingegen unterstützt die Neutralitätsinitiative. Die Volksinitiative wolle «die Neutralität und ihre Grundzüge in der Verfassung verankern», was sie «dem kurzfristigen Denken» manchen in der Politik etwas entziehe, wie er auf der Plattform InfosperberExterner Link schreibt. In der Perspektive des emeritierten Professors für Politikwissenschaft an der Universität Bern hat «der Bundesrat in den vergangenen drei Jahren leider ein Stück weit» die Glaubwürdigkeit der Schweizer Neutralität gegen aussen verspielt.

Editiert von Benjamin von Wyl

Mehr
Newsletter sobre a política externa

Mehr

Aussenpolitik

Unser Newsletter zur Aussenpolitik

Die Schweiz in einer Welt, die sich bewegt. Beobachten Sie mit uns die Schweizer Aussenpolitik und ihre Entwicklungen – wir liefern die Vertiefung dazu.

Mehr Unser Newsletter zur Aussenpolitik

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft