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“Einigen wird die Rückkehr zur Normalität schwerfallen”

Fröhliche Menschen
"Ein Grossteil der Menschen ist sehr widerstandsfähig und resilient und kann sich nach schwierigen Momenten schnell wieder orientieren. Aber ein Teil wird es schwer haben", sagt die Psychotherapeutin Carola Smolenski . Keystone / Florian Kopp

Nach zwei Jahren Pandemie könnte bald das Leben weitergehen, wie es die Schweiz einst gewohnt war. Aber das Sozialverhalten hat sich verändert. Psychotherapeutin Carola Smolenski sagt, was es nun braucht und warum der Begriff der Corona-Jugend bleiben dürfte.

Die Zahl junger Menschen, die sich wegen Suizidgedanken in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in Behandlung begeben mussten, hat dramatisch zugenommen. Die Jugendpsychiatrie ist in der Pandemie im ganzen Land ihre Belastungsgrenze gestossen. Es ist dies vielleicht das augenfälligste Zeichen, wie tief die Spuren sind, die zwei Jahre Ausnahmezustand in der Wohlstandsinsel Schweiz hinterlassen haben.

Nun aber, im Angesicht sinkender Ansteckungszahlen und einer stabilen Gesundheitslage in den Spitälern, scheint sich der Weg in die Normalität zu öffnen: Was müssen wir in dieser Situation wieder lernen? Was muss noch heilen, und womit können wir ganz gut weitermachen?

Dr. Phil. Carola Smolenski, Psychotherapeutin und Vorstandsmitglied der Föderation Externer Linkder Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP ordnet die Risiken und Chancen ein.

swissinfo.ch: Frau Smolenski, welche Spuren wird die Pandemie bei uns hinterlassen?

Einige Menschen sahen sich einem anhaltenden Stress ausgesetzt. Sie waren von persönlichem Verlust betroffen, erlebten Einschränkungen im beruflichen und privaten Alltag oder hatten ein Gefühl von Kontrollverlust. Das hat dazu führt, dass sie zunehmend unsicher sind, auch in den sozialen Kontakten.

Einige berichten davon, verlernt zu haben, Menschen gegenüber aufzutreten, neue Bekanntschaften zu machen, Komplimente zu machen oder auf Komplimente zu reagieren, im privaten oder im beruflichen Bereich. Oder überhaupt mit jemandem näher als anderthalb Meter in Kontakt zu treten. Das müssen wir wieder üben und uns wieder zutrauen.

Dr. Phil. Carola Smolenski
Dr. Phil. Carola Smolenski, Psychotherapeutin und Vorstandsmitglied der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP. © Hanspeter Baertschi

Wurden die psychischen Auswirkungen der Pandemie zu wenig beachtet?              

Einige Grundbedürfnisse kamen zu kurz. Es gibt ja nicht nur die bekannten Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Schlafen, sondern auch psychologische: Das Erleben von vertrauensvollen Beziehungen, lustvollen Erfahrungen, Orientierung und Kontrolle im Leben, aber auch das Wissen, wohin es geht. Das Gefühl, dass man selber ein Stück weit Einfluss auf sein Leben hat. Und die Erfahrung von Wertschätzung, von positivem Feedback.

Und was passiert mit uns, wenn diese Erfahrungen fehlen?

Wenn eines oder mehrere dieser psychologischen Grundbedürfnisse unbefriedigt bleiben oder wenn sie verletzt werden – mehrfach oder über längere Zeit – kann das dazu führen, dass unser psychisches System instabiler, verletzlicher wird.

Das ist die Hypothese. Und wenn das über zu lange Zeit der Fall ist, werden wir deutlich anfälliger für psychische Erkrankungen. Diese Annahme lässt sich ganz gut auf die Zeit der Pandemie übertragen. In vielen Bereichen wurden eben genau diese Grundbedürfnisse anhaltend oder punktuell verletzt.

Zum Beispiel?

Das Bedürfnis nach nahen, vertrauensvollen Beziehungen. Da rede ich jetzt nicht nur von Liebesbeziehungen, sondern eben auch von Freundschaften, vom wiederkehrenden unbeschwerten und spontanen kollegialen Austausch, bei der Arbeit und in der Freizeitgestaltung.

Ist es schwer, wieder zur Normalität zurückzukehren?

Ein Grossteil der Menschen ist sehr widerstandsfähig und kann sich nach schwierigen Momenten schnell wieder orientieren. Aber ein Teil wird es schwer haben. Das können zum Beispiel diejenigen sein, die sich im Laufe der Pandemie bewusste oder unbewusst zunehmend sozial zurückgezogen haben.

Die Gründe dafür können vielfältig sein: Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, Jobverlust, existentielle Nöte oder auch eine vorbestehende psychische Erkrankung. Menschen mit Depressionen oder Angststörungen kam das Homeoffice zunächst vielleicht sogar entgegen, weil sie weniger mit Ängsten und Unsicherheiten im sozialen Bereich konfrontiert waren. Für sie kann der Schritt zurück in die Normalität nun jedoch mit besonderen Herausforderungen verbunden sein.

Was nehmen wir aus der Krise mit?

Die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir mit dem Gefühl des Kontrollverlusts umzugehen lernen müssen. Das gilt auch in einem Land wie der Schweiz mit einem stabilen Gesundheitssystem und einer stabilen politischen Situation, wo ein grosser Teil der Bevölkerung über finanzielle Möglichkeiten und moderne Technologien verfügt.

Trotzdem mussten wir erfahren, dass wir bei Weitem nicht alles unter Kontrolle haben und dass sich relativ schnell sehr vieles verändern kann. Das ist wohl eine Erfahrung, die für viele schockierend war und mit der viele Menschen erst einmal überhaupt nicht umgehen konnten.

Was wir als Psychotherapeut:innen ganz deutlich festgestellt haben, ist, dass durch die Pandemie die psychische Gesundheit stärker ins Bewusstsein der Menschen getreten ist. Ich würde mir wünschen, dass das einen bleibenden Effekt hat.

Eine durchaus positive Auswirkung der Pandemie könnte also darin bestehen, dass wir mehr auf unsere psychische Gesundheit achten und auch öfter und ohne Scham darüber sprechen. Dass wir achtsamer und bewusster mit unseren eigenen Ressourcen umgehen, sie auch präventiv stärken und uns rechtzeitig professionelle Hilfe holen, wenn wir alleine nicht mehr weiterkommen.  

Betroffen waren speziell die Jugendlichen. Was hat die Pandemie mit ihnen gemacht?

Wir müssen damit rechnen, dass wir in Zukunft den Begriff “Corona-Jugend” in unserem Wortschatz haben werden. Diese Gruppe musste versuchen, trotz Einschränkungen altersentsprechende Bedürfnisse auszuleben und erwachsen zu werden.

Für sie fiel die Pandemie in die Zeit, in der sie entwicklungsbedingt Autonomie erfahren und erproben sollten. Eigentlich geht es in dieser wichtigen Lebensphase um Ablösung vom Elternhaus, um das Ausprobieren der sozialen Kontakte und der romantischen Beziehungen. All dies war für viele nun aber nur massiv eingeschränkt möglich.

Mit welchen Konsequenzen?

Studien zeigen deutlich auf, dass ein grosser Anteil der Jugendlichen leidet und sich mit Zukunftsängsten, Unsicherheiten, depressiven Verstimmungen und sogar Suizidgedanken auseinandersetzen muss.

Das Thema psychische Gesundheit wird für viele Jugendliche auch nach dem Ende der Pandemie präsent bleiben. Das kann einerseits eine Chance sein, die zur Enttabuisierung von psychischer Gesundheit führen kann. Andererseits könnte es auch sein, dass diese Jugendlichen nun ein feineres Gespür für Gesundheit, für Selbstfürsorge, vielleicht auch für Verantwortung gegenüber anderen, vulnerableren oder den älteren Generationen entwickeln.

Wächst aus der Krise nun also eine solidarischere Generation heraus, die sich allenfalls auch bewusster mit globalen Herausforderungen auseinandersetzt?

Ich will die Pandemie nicht grundsätzlich mit einem Trauma gleichsetzen, aber es gibt im Trauma-therapeutischen Bereich den Begriff des «Posttraumatischen-Wachstums», das aus einem Trauma entstehen kann: Wenn man eine Krise für sich adaptiv verarbeiten konnte, dann bestehet die grosse Chance, aus dieser schwierigen Situation etwas mitzunehmen und daran zu wachsen, sich weiter zu entwickeln und dadurch stärker zu werden.

Und wie können Jugendliche dabei unterstützt werden?

Das Wichtigste scheint mir jetzt eine besondere Achtsamkeit und Solidarität mit der jungen Generation. Sie braucht dringend wieder mehr Freiräume, in denen sie wenigstens einen Teil der altersentsprechenden Erfahrungen, die während der Pandemie nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich waren, nach- oder aufholen kann.

Ebenso wichtig scheint mir, dass gerade auch nach den Lockerungen der Massnahmen auf die psychische Verfassung der Kinder und Jugendlichen – aber auch der Erwachsenen – geachtet wird. Es ist meines Erachtens in der Verantwortung unserer Gesellschaft, dass auch nach den Lockerungen für all jene von uns, für die der Schritt zurück in die Normalität eine Herausforderung darstellt, genügend professionelle Hilfsangebote zur Verfügung stehen.

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