Das neue Schweizer Parlament ist bestimmt – durchgepflügt wie noch nie. Am Wochenende haben auch die letzten drei Kantone ihre Ständeräte gewählt. Zeit für eine abschliessende Einordnung.
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Claude Longchamp, swissinfo.ch
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The lessons to be learned from Switzerland’s election upset
Die Wahlen 2019 waren anders. Um das zu verstehen, müssen wir anschauen, was in den letzten drei Jahrzehnten in der Schweiz geschah. Seit den 1990er-Jahren zeigten alle Wahlen in der Schweiz eine zunehmende Polarisierung: Die Polparteien SVP, SP und Grüne legten jeweils zu. Die Mitteparteien verloren.
So entwickelten sich die äusseren Ränder der Parteienlandschaft nachhaltig auseinander.
Diesmal aber verloren sowohl SVP auf der rechten Seite wie auch die SP auf der linken. Leicht rechts der Mitte liess auch die FDP Federn. Einzig die die Mittepartei CVP kam mit leicht weniger Stimmen davon.
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Schweizer Wahlen: Umweltparteien erobern 26 Sitze dazu
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SVP verliert zwölf Sitze, Grüne gewinnen 17, Grünliberale 9. Die Resultate vom 20. Oktober
An Wählerstärke eingebüsst haben damit alle Regierungsparteien. Deutlich zugelegt haben dagegen mit den Grünen und den Grünliberalen zwei Nicht-Regierungsparteien.
Regierungsparteien in der Sackgasse
Genau dieses Muster ist neu in der Schweiz – und dennoch nichts Überraschendes, wenn wir etwa nach Europa schauen. Auch da legen seit der globalen Finanzmarktkrise die Oppositionsparteien zu und drängen die Parteien mit Regierungsverantwortung in die Defensive.
Das Ausmass des Umbruchs ist für die Schweiz aber einzigartig. Es waren die volatilsten Wahlen nach Einführung des Proporzwahlrechts 1919.
Dies gilt insbesondere für den Nationalrat, die Grosse Kammer: Über 17 Prozent der Sitze wechselten hier die Partei.
Etwas stabiler – aber nach demselben Muster – präsentiert sich die Situation im Ständerat. 10 der 46 Sitze haben nun die Parteifarbe gewechselt. Auch das ist ein neuer Rekordwert.
Insgesamt setzt sich das Wahljahr 2019 damit an die Spitze einer Reihe von historischen Landmarken. Die grössten Erschütterungen der Parteienlandschaft fanden zuvor 1935 und 2011 statt. Damals wechselten 13 Prozent, beziehungsweise 15 Prozent der Sitze im Nationalrat die Partei, was jeweils ein Schweizer Rekord war.
Globale Beben, lokale Erdstösse
1935, bei der ersten solchen Disruption, wirkte die Weltwirtschaftskrise von 1929 nach. Sie brachte einen Rückgang der Wirtschaftsleistungen, Arbeitslosigkeit und soziale Not. Das bildete den Nährboden für neue Parteien, unter anderem den Nationalsozialisten in Deutschland.
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In der Schweiz verloren die vier grossen Parteien die Wahlen von 1935 gemeinsam. Am meisten traf es die führende FDP, gefolgt von der BGB (heute SVP) und die KVP (heute CVP). Auch die Sozialdemokraten, seit 1931 die stärkste Partei der Schweiz, waren auf der Verliererseite.
Namhafte Gewinne verbuchten dafür der neu entstandene Landesring der Unabhängigen, die bürgerlichen Freiwirtschaftler, die Jungbauern und die rechtsextremen Frontisten.
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Wofür stehen die Schweizer Parteien?
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Rechts, links, Mitte. So werden politische Parteien beschrieben. Aber wo stehen sie wirklich? Diese sieben Grafiken verraten es.
Heftig debattiert wurde in der Folge ein neues Regierungssystem. Es sollte die neuen Kräfteverhältnisse auch im Bundesrat abbilden. Entstanden ist der erste Schritt zur sogenannten Schweizer «Zauberformel», welche vier feste Regierungsparteien in der siebenköpfigen Landesregierung vorsieht.
Die zweite grosse Disruption
Die zweite vergleichbare Erschütterung erfolgte 2011. Auslöser war hier der Unfall im Kernreaktor im japanischen Fukushima. Er machte sichtbar, dass sich die Kernenergie überlebt hatte. Auch in der Schweiz wurde der Ausstieg aus dieser Technologie laut gefordert. Der Bundesrat übernahm die Führung im Dossier und leitete eine entsprechende Politik ein. Die Frauen im Bundesrat, erstmals mit vier in der Mehrheit, beschlossen den Ausstieg.
Im Wahlherbst 2011 kamen jedoch alle im Bundesrat vertretenen Parteien unter die Räder. Am meisten verlor wiederum die FDP, die sich in der wichtigsten Frage nicht entscheiden konnte.
Eigentliche Wahlsieger waren auch hier Newcomer: die BDP, die 2011 erstmals bei nationalen Wahlen kandidierte, und die GLP, die zum zweiten Mal antraten. Beide erreichten je mehr als 5 Prozent der Wählenden, die GLP namentlich auch viele Junge.
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Das politische Gleichgewicht basiert auf einer Zauberformel
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Als 1848 die moderne Schweiz gegründet wurde, bestand die Schweizer Regierung aus Mitgliedern einer einzigen Partei. Eine zweite Partei war erst ab 1891 im Kabinett vertreten. Und es dauerte weitere 50 Jahre, bis zwei weitere Parteien Sitze erhielten. 1959 einigten sich die vier grössten Parteien darauf, die Sitze unter sich gemäss der Kräfteverhältnisse im Parlament…
Die dritte grosse Disruption erfolgte im aktuellen Wahljahr. Der Protest auf der Strasse gegen die unterlassene Politik zum Klimawandel hatte im Frühling mit den Schülerstreiks und Demonstrationen seinen ersten Höhepunkt erreicht. An der Urne mündete dies in einen Rekordgewinn bei den Grünen, gefolgt von dem der Grünliberalen.
Was lehrt uns das?
1. Am Anfang aller grossen Erschütterungen der Schweizer Parteienlandschaft stehen globale Krise der Wirtschaft, der Technologie und der Umwelt.
Sie wirken bei Schweizer Wahlen nach, weil unser Land angesichts ihrer Weltmarktorientierung kein Container ist, der sich hermetisch abriegeln lässt.
2. Es fällt auf, dass die Intervalle zwischen zwei Disruptionen kürzer werden. Grosse Erschütterung sind nicht mehr fast einmalige Einschnitte. Vielmehr sind sie inzwischen beinahe die Regel.
3. Das setzt der Stabilität des politischen Systems zu. Die Parteienlandschaft ist im Umbruch. Das wird nicht ohne Folgen für das Regierungssystem bleiben. Denn die Schweizer Zauberformel für den Bundesrat ist auf Dauer angelegt. Sie setzt eine stabile politische Landschaft voraus mit gefestigten Parteien und akzeptierten Interessenvertretern.
Eine stabile politische Landschaft zu erhalten. Das ist die zentrale Herausforderung, auch für die Schweiz.
Die letzten Resultate
In der Kleinen Kammer bleiben die Blockstärken weitgehend unverändert. Spannen CVP und FDP zusammen haben sie in der kleinen Kammer eine Mehrheit. Zudem kommen sowohl CVP mit SP und Grünen als auch der FDP mit dieser Kombination auf eine Mehrheit.
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Freiburger gründet «Tinder der Berge» für die Liebe in der Höhe
Soll der Verkauf von Rohmilch verboten werden oder sollen Konsumentinnen und Konsumenten selbst entscheiden?
In der Schweiz verbietet das Lebensmittelgesetz den Verkauf von Rohmilch zum direkten Verzehr. Ein Schlupfloch erlaubt dies jedoch in 400 Rohmilchautomaten.
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19:15 – Hochkarätiges Podium als Schlusspunkt Zum Abschluss des Europa Forums 2015 im KKL Luzern debattieren Politiker, Wirtschaftsvertreter und eine Politologin zum Veranstaltungsthema direkte Demokratie. Silja Häusermann, Professorin für Schweizer Politik und Vergleichende politische Ökonomie an der Universität Zürich, sieht die direkte Demokratie als etwas sehr Selbstverständliches in der Schweiz. Nicht nur die Zustimmung zur…
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