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Steigt die Schweiz aus der Kernenergie aus?

Alternative Energiegewinnung wird zunehmend wichtiger, wenn man eine atomstromlose Zulunft anpeilt. Keystone

Nach der Katastrophe in Japan werden in der Schweiz drei Szenarien verfolgt, darunter – und das ist neu – ein kompletter Ausstieg aus der Kernkraft. Wie soll das gehen? Atomenergie macht 40% der Schweizer Elektrizität aus. Die Antworten sind unterschiedlich, je nach Lager.

Vor dem Hintergrund der radioaktiven Wolken, die aus den Ruinen des Kernkraftwerks in Fukushima entweichen, stellt man sich fast überall auf der Welt Fragen und überdenkt die eigene Atompolitik.

So geschieht es auch in der Schweiz. Am Montag, 14. März, kündigte Umwelt- und Energieministerin Doris Leuthard an, die hängigen Genehmigungsverfahren für drei geplante Kernkraftwerke zu sistieren. Diese sollten die alten Anlagen ersetzen, deren Betriebsdauer zur Neige geht. Am nächsten Tag erklärte Walter Steinmann, der Direktor des Bundesamts für Energie (BFE), am Schweizer Fernsehen, dass als mögliches Szenario nun neu auch ein Ausstieg aus der Kernenergie diskutiert werde.

Das BFE ist dabei, die energiepolitischen Perspektiven von 2007 zu aktualisieren. Die neuen Szenarien sollen in einem Jahr vorliegen und als politische Entscheidungsgrundlagen dienen. Geprüft werden die Optionen “atomfreie Stromproduktion”, “weiter als wäre nichts geschehen” und ein “Mittelweg mit einem Kernkraftwerk und grösseren Investitionen in erneuerbare Energien”.

Mit Effizienz gegen Engpässe

“Dieser Weg muss möglich sein, denn Uran ist eine endliche Ressource, die uns möglicherweise noch 60 bis 100 Jahre zur Verfügung steht. Die längerfristige Stromzukunft wird deshalb so oder so ohne Atomkraft zu bewerkstelligen sein”, sagt Jürg Buri, Direktor der Schweizerischen Energiestiftung, die sich für die so genannte “2000 Watt-Gesellschaft” einsetzt.

“Wenn wir einen geordneten Rückzug aus dieser Risikotechnologie wollen, brauchen wir ein Gesetz, das vorschreibt, wie lange die Kraftwerke noch laufen, und welches die Fördermassnahmen festschreibt, mit denen die wegfallenden Kapazitäten mit erneuerbaren Energien und Energieeffizienz aufgefüllt werden können”, so Buri.

Im anderen Lager ist man offensichtlich noch nicht bereit für einen schnellen Umbruch. “Die schweizerische Energiepolitik ist sinnvoll und breit akzeptiert. Sie gilt nach wie vor. Sie sollte unter dem Eindruck der Ereignisse auch nicht überstürzt geändert werden”, schreibt Andreas Werz von der Kommunikationsabteilung von Alpiq, einem der grössten Stromproduzenten der Schweiz. Alpiq besitzt auch die beiden Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt.

Beim Stromriesen begrüsst man “neue erneuerbare Energien und neue Technologien für effiziente Energienutzungen. Weniger erfolgreich dürften jedoch Strategien sein, die den gewohnten Komfort beeinträchtigen und den Kunden diktieren, wann, wo und in welcher Menge sie ihren Strom beziehen dürfen. Solche Strategien wären mit einem massiven Eingriff in die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger verbunden.”

Mit derartigen Argumenten wird Jürg Buri oft konfrontiert. “Jede dritte Kilowattstunde wird heute mit ineffizienten Geräten und Anwendungen verschwendet”, entgegnet er. ” Hätten wir in den letzten 10 Jahren das getan, was Deutschland im Bereich der Förderung der erneuerbaren Energien getan hat, hätten wir bereits heute zwei der drei kleinen alten AKWs mit erneuerbaren Energien ersetzt.”

Temporäre oder nachhaltige Lösungen?

Und was wäre mit gasbetriebenen Kraftwerken als Alternative, falls man keinen Konsens finden könnte, wie man die drei alten Atomkraftwerke ersetzen könnte?

Jürg Buri spricht sich nicht grundsätzlich dagegen aus, wenn es sich um eine Überganslösung handle. Aber “diese Frage stellt sich für den Moment nicht. Wir haben genügend einheimische erneuerbare Potentiale auf der Produktions- wie auch auf der Nachfrageseite. Erst wenn wir die Erneuerbaren- und Effizienzpotentiale in der Schweiz ausgeschöpft haben oder wir auf der Zeitachse ein Problem kriegen, müssen wir über Zwischenlösungen nachdenken. Das kann Gas oder der Import von erneuerbarem Strom sein.”

Bei Bedarf könnte die Schweiz laut Buri auch Strom aus ihren Auslandkraftwerken beziehen. “Die Schweizer Stromfirmen produzieren bald mehr Strom im Ausland als im Inland. Vor baldiger Stromknappheit müssen wir uns in der Schweiz zum Glück nicht fürchten.”

Für ihn ist die Kernenergie keine Option mehr. “Nach Fukushima stellt sich diese Frage nicht mehr. Wir brauchen jetzt erst recht den geordneten Rückzug aus dieser Risiko-Technologie und keine neuen nuklearen Abenteuer.” Auch volkswirtschaftlich gesehen sei ein neues AKW eine Fehlinvestition. “Fürs gleiche Geld machen wir mit Erneuerbaren und Effizienz mehr Energie und schaffen erst noch dauerhafte Arbeitsplätze.”

Auch Alpiq spricht sich für Nachhaltigkeit aus, auch wenn für die Produzentin von Atomstrom dieser Begriff nicht denselben Inhalt hat wie für Umweltschützer. “Es geht darum, die verschiedenen Stromproduktionsarten unter den Aspekten der Versorgungssicherheit, der Umweltverträglichkeit und der Wirtschaftlichkeit zu vergleichen und ihre Vor- und Nachteile sorgfältig abzuwägen”, schreibt Andreas Werz. Aber letztlich werde sowieso “das Volk entscheiden”.

Ab 2020 müssen die ersten der fünf Schweizer AKWs stillgelegt werden. Sie kommen ans Ende ihrer technischen Betriebsdauer. Dann müssten 20 bis 30% des schweizerischen Stromkonsums ersetzt werden.

Die Stromwirtschaft will diese Lücke mit neuen AKW und Kohle- oder Gaskraftwerken decken.

Die Agentur für erneuerbare Energien und Energieeffizienz ist der Ansicht, dass erneuerbare Energien bis 2030 zwischen 55 und 75 Mrd. kWh mehr Strom liefern können, je nach Ausbau.

56% der in der Schweiz erzeugten Elektrizität stammen aus Wasserkraftwerken, 39% aus Atomkraftwerken und der Rest aus verschiedenen Anlagen, die Erdöl, Erdgas, Holz, Abfall, Sonne oder Wind nutzen.

Seit 1960 hat sich die Stromerzeugung in der Schweiz fast verdreifacht auf über 60 Mrd. Kilowattstunden (kWh) pro Jahr.

Die Wasserkraft-Energie kommt fast zur Hälfte aus Lauf- oder Flusskraftwerken und aus Speicherkraftwerken (Stauseen in den Alpen). Rund 4% kommen aus Pumpspeicherkraftwerken, die mit hochgepumptem Wasser arbeiten.

Die ältesten Atomkraftwerke Beznau I und II sowie Mühleberg produzieren pro Jahr rund halb so viel Strom wie die AKW Leibstadt und Gösgen.

Der Endverbrauch an Strom wuchs in der Schweiz von rund 16 Mrd. kWh (1960) auf knapp 58 Mrd. kWh (2009). Der Stromverbrauch pro Einwohner und Jahr wuchs im gleichen Zeitraum von 3000 auf 8000 kWh.

Übers Jahr gesehen führt die Schweiz meist mehr Strom aus als ein: 2009 importierte sie 52 Mrd. kWh, und exportierte 54,2 Mrd. kWh. Die Schweiz exportiert Strom vor allem im Sommer (nach Schneeschmelze, Vollauslastung der Wasserkraftwerke).

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