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So umfassend profitierte die Schweiz vom Kolonialismus

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Die "Ida Ziegler", eines von drei Schiffen einer kleinen Flotte von Winterthurer Kaufleuten, die mit den Kolonien Indiens Handel trieben. Club zur Geduld, Winterthur

Die Schweiz hatte keine Kolonien. Gerade deswegen profitierte sie. Als Schützling der kolonialen Grossmächte konnte sie ihre wirtschaftliche Stellung in der Welt aufbauen.

Wahrscheinlich waren die Schweizer, gerade weil sie keine kolonialen Ambitionen hegten, durch die europäischen Mächte gut geduldet. Schon vor 90 Jahren schrieb der Ökonom Richard Behrendt, dass die Schweiz als lachende Dritte mehr vom Imperialismus profitiert habe als die europäischen Grossmächte. Diese hatten nämlich für die Aufrechterhaltung ihrer Reiche auch beträchtliche Kosten zu tragen.

forscht als freischaffender Historiker in Amsterdam. In seiner Dissertation “Die Koloniale Schweiz” und im auf englisch erschienenen Buch “The Swiss in Singapore” beschäftigt er sich mit Auslandschweizern und ihren Beziehungen zu den Kolonialmächten.

Auch arbeitet er regelmässig für das Johannn Jacobs Museum in Zürich, das in Ausstellungen immer wieder Geschichten der globalen Verflechtung untersucht.

In einem aktuellen Projekt, einer Ausstellung im Museum Heiden, beschäftigt er sich mit den Biografien von Appenzeller Indonesiengängern.Externer Link

Wer sind in der Schweiz also Zugang zu den Kolonien zu verschaffen vermochte, konnte grosse Gewinne machen. Vor allem die wohlhabenderen Schichten profitierten davon.

Patrizier als Offiziere und Kaufleute

Bereits im frühen 17. Jahrhundert heuerten Schweizer bei den Ostindien Kompanien der Niederländer und der Briten an. Die meisten hatten ein erbärmliches Schicksal. Einige Offiziere hingegen schufen sich ein Vermögen und nützliche Verbindungen. Sie stiegen in die Plantagenwirtschaft ein und liessen Zucker oder andere Produkte anbauen. Als Arbeitskräfte dienten Versklavte aus Afrika.

In der Schweiz verdienten einige Handelsfirmen wie etwa Firma von Christoph Burckhardt in Basel und Louis de Pourtalès in Neuenburg grosse Summen im Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Amerika mit Stoffen, Versklavten und Plantagenprodukten. Nicht nur private Firmen investierten in den transatlantischen Handel: die Stadt Bern etwa war 1719 der grösste Investor der britischen South Sea Company, welche die britischen Kolonien im südlichen Amerika mit Sklaven versorgen sollte.

Textilkaufleute in Übersee

Durch den Kolonialhandel kamen begehrte Stoffe aus Indien nach Europa und mit ihnen auch die Techniken zum Verarbeiten und Färben der Baumwolle. Der industrielle Take-off begann mit der Imitation dieser “Indiennes”-Stoffen. Dieses Modell wurde im 19. Jahrhundert fortgesetzt. Da die Nachbarn hohe Zollschranken aufbauten, spezialisierte sich die Schweizer Textilindustrie auf ferne Märkte. Sie kopierte fremde Muster, stellte sie industriell her und verkaufte sie billiger als die lokalen handgefertigten.

Dazu brauchte es tragfähige globale Netzwerke. Junge Kaufleute fuhren im Auftrag der Textilindustrie an wichtige Handelsplätze und bauten Filialen auf. Die Kommunikation war nicht einfach in einer Zeit, wo die Reise nach Südostasien drei bis vier Monate dauerte. Die damit verbundenen Risiken gingen die Kaufleute nur ein, weil sie den militärischen und rechtlichen Schutz der imperialen Mächte hinter sich wussten. Dieser galt selbst in Ländern, die keine Kolonien waren, wie Japan, China, Thailand, Iran und das Osmanische Reich.

Erfolgreiche Rohstoffhändler

Risikovoller, aber auch lukrativer war der Handel mit den Reichtümern der Kolonien – mit Rohstoffen für die industrielle Produktion in Europa. Einige Handelsfirmen hatten grossen Erfolg darin. André in Lausanne war führend im Getreidehandel. Volkart aus Winterthurer mit Niederlassungen in Britisch-Indien baute im Handel mit Rohbaumwolle und Kaffee ein Weltimperium auf.

Siber Hegner dominierte ein halbes Jahrhundert den Seidenhandel in Japan. Schliesslich auch die Basler Missionshandelsgesellschaft: sie förderte den Anbau von Kakao in Ghana und wurde zu einem wichtigen Player im Kakaohandel.

In der Schweiz gaben die Handelshäuser wichtige Impulse für die Entwicklung der Finanzindustrie. Einige der erfolgreichen Kaufleute aus den Kolonien landeten nach ihrer Rückkehr in Verwaltungsräten von Versicherungen und Banken. Die genannten Handelshäuser legten die Grundlage für den heutigen Rohstoffhandel in der Schweiz.

Über lange Zeit haben sich Know-how im Handel und in Finanzdienstleistungen entwickelt.

Der Rohstoffhandel profitiert indirekt noch stets vom Kolonialismus. Letzterer hat in Afrika eine Reihe von schwachen Staaten mit bestechlichen Regierungen hinterlassen und in Europa eine weitverbreitete Gleichgültigkeit gegenüber der Ausbeutung der dortigen Bodenschätze.

Die Tropen als Reservoir für Forschung und Industrie

Nicht nur der Handel profitierte vom Zugang zu den Kolonien, ebenso Wissenschaft und Technik. In den Tropen stellten sich die interessanten Forschungsfragen in Geographie, Biologie, Paläontologie und Anthropologie. Die Pharmazeutik interessierte sich für indigene Heilpflanzen. Akademische Karrieren wurden lanciert durch Reisen in die Tropen oder durch die Arbeit mit tropischem Material in hiesigen Labors. Geologen durchforsteten Urwälder und Wüsten für Shell und andere Erdölgesellschaften.

Wie die erste Industrialisierung mit Baumwolle und fremden Mustern so baute auch die zweite Industrialisierung (Chemie, Automobil und Elektroindustrie) auf Materialien aus den Kolonien. Der billige Kautschuk aus den Plantagen in Malaysia, auf Sumatra und Ceylon gab ihr den nötigen Schub.

Die Suche nach immer neuen vielversprechenden Materialien intensivierte sich. Die industriellen Plantagen der Europäer schlugen grosse Schneisen in den Urwald. Viele Schweizer arbeiteten auf solchen Plantagen. Einige wenige wurden äusserst reich damit und zeigten diesen Reichtum nach ihrer Rückkehr in Villen mit prächtigen Gartenanlagen.

Doch diese paar Millionäre aus den Kolonien waren für die Volkswirtschaft kaum relevant. Viel wichtiger war die Stellung der Schweiz in der internationalen Wirtschaftsordnung, die in der Kolonialzeit entstand: auf der einen Seite Rohstofflieferanten, auf der anderen industrielle Produzenten. Die Schweiz konnte sich dank des Zugangs zu den Kolonien und ihren Rohstoffen als Industrienation etablieren.

Mit der neuen Globalisierung hat sich zwar die industrielle Produktion wieder in die ehemaligen Kolonien verschoben, doch zählt heute die Wissens- und Technologieproduktion umso mehr. Und auch die Hochschullandschaft der Schweiz stünde ohne Zugang zu den Kolonien heute schlecht da.

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