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Philippe Jaccottet: Der Goncourt-Preisträger wäre in diesen Tagen 100 geworden

Ein Mann vor einer Bücherwand
Dichter, Schriftsteller, Übersetzer: Philippe Jaccottet bei sich zu Hause. Francesco Ferri

Der vielfach ausgezeichnete Schweizer Dichter und Übersetzer Philippe Jaccottet, Träger des Grossen Schillerpreises sowie des Goncourt-Preises, wäre in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden. Swissinfo wirft ein Schlaglicht auf diesen Westschweizer Poeten, der in der Abgeschiedenheit Südfrankreichs seinen idealen Lebens- und Arbeitsort fand.

Lange ist es her: Ich traf Philippe Jaccottet im Februar 1998 im Schweizer Kulturzentrum in Mailand. Der Anlass war die Präsentation der italienischen Neuübersetzung des Bandes «À la lumière d’hiver / Pensées sous les nuages» (Edition Gallimard).

Bei dieser Gelegenheit erzählte mir der französischsprachige Schweizer Dichter und Prosaist, dass sich sein Leben während eines Spaziergangs verändert habe, «nachdem ich einen Quittenbaum am Strassenrand entdeckt hatte, einen ziemlich seltenen Baum, den ich noch nie blühen gesehen hatte».

Vor der Lesung stellte ich ihm einige Fragen und lauschte dann seiner Stimme, seinen schlichten, brüchigen Versen, in einer Spannung zwischen körperlicher Zerbrechlichkeit und innerer Stärke. Bis heute hallen diese Verse in mir nach, zusammen mit seinem persönlichen Understatement.

Am 30. Juni jährt sich Jaccottets Geburtstag zum 100. Mal. Der Tessiner Schriftsteller Fabio PusterlaExterner Link, sein Übersetzer und langjähriger Freund, sagt über Jaccottet: «Ein war ein klarer, zurückhaltender, bescheidener Mann, der jeder Form von intellektuellem Exhibitionismus misstraute.»

Just am 30. Juni findet im Maison Rousseau in GenfExterner Link die Tagung «Philippe Jaccottet, L’inquiétude et la Fête»Externer Link statt, und im Oktober 2025 eine zweitägige Konferenz in RomExterner Link.

Zwei Männer in einem Garten
Philippe Jaccottet mit dem Tessiner Schriftsteller Fabio Pusterla. Francesco Ferri

Metaphysische Neigungen

Jaccottet wurde am 30. Juni 1925 in Moudon im Kanton Waadt geboren und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Grossen SchillerpreisExterner Link und den Goncourt-PreisExterner Link.

Er studierte Literatur in Lausanne und zog dann nach Paris, um schliesslich 1953 in das kleine, ländliche Grignan zu ziehen, ein mittelalterliches Dorf in Südfrankreich.

Dort lebte er, mitten in der Natur, mit seiner Frau Anne-Marie Haesler, einer Malerin, bis zu seinem Tod am 24. Februar 2021. Er verstarb im hohen Alter von 95 Jahren.

«Philippe Jaccottet war ein aufmerksamer Beobachter der Natur, aber sein literarischer und philosophischer Ansatz hat etwas Tieferes und Wesentlicheres zum Inhalt als die Wahrnehmung an sich. Dies ist die Dimension, die mich von Anfang an mit seinem Werk beschäftigt hat, als ich Mitte der 1990er-Jahre begann, es zu lesen und zu rezensieren», sagt John TaylorExterner Link.

Der amerikanische Schriftsteller und Kritiker hat die Gedichte und Prosa des «Cahier de verdure» ins Englische übersetzt. Diese Arbeit sollte später in die zweisprachigen französisch-englischen Gedichte-Sammlung «And, Nonetheless: Selected Prose and Poetry» (Ausgewählte Prosa und Lyrik) einfliessen. Darin ist fast die gesamte literarische Prosa Jaccottets aus den Jahren 1990 bis 2009 enthalten.

Ein Mann in einem Garten
Porträt von Philippe Jaccottet durch den Verleger Henry-Louis Mermod, 1946. Centre des littératures en Suisse romande, UNIL, fonds Henry-Louis Mermod

Taylor fügt hinzu, dass Jaccottet vor seinen eigenen metaphysischen Neigungen gewarnt habe. «Es ist nützlich, sich ihn als einen antiken griechischen Empiriker vorzustellen, der danach strebt, ein Seher zu sein, und sich der Illusionen und Selbsttäuschungen bewusst ist, die dieses Streben potenziell mit sich bringt», so Taylor.

In seiner trockenen Lyrik sei ein starker Versuch zu erkennen, die Landschaft zu hinterfragen. «In ihr versucht er, das Geheimnis des Wortes Poesie zu erkunden», sagt Pusterla.

Und weiter: «In einem Gedicht sagte er einmal, er hätte gerne ohne Bilder gesprochen. Doch das sei nicht möglich. Bilder seien notwendig, aber sie liefen Gefahr, selbstgefällig zu sein und uns deshalb auf Distanz zu halten.»

So dachte Jaccottet über seine eigene Kunst. Jedes Mal habe er geglaubt, das richtige Bild gefunden zu haben, «aber kurz darauf widerlegte er es, damit es nicht zu literarisch wird».

Ihn als Naturdichter zu bezeichnen, wäre allerdings zu kurz gegriffen. «Vielmehr ist er ein Schriftsteller, der über unsere Beziehung zur Natur und die Möglichkeiten (und Unmöglichkeiten) nachdenkt, diese Beziehung ‘ehrlich’ mit Worten zu erkunden», betont Taylor.

Homo europaeus

Jaccottet war ein echter europäischer Literat und gehört zu den wenigen französischsprachigen Autoren, die noch zu Lebzeiten in die klassische und prestigereiche Buchreihe «Bibliothèque de la Pléiade» aufgenommen wurden.

Eine handbeschriebene Buchseite
Lesehinweise zur Entstehung von «Entretien des Muses». Laurent Dubois © BCU Lausanne

Er spielte in der europäischen literarischen Kultur des 20. Jahrhunderts dank seiner meisterhaften Fähigkeiten als Übersetzer eine führende Rolle.

«Er beherrschte mehrere Sprachen und übersetzte aus ihnen; er rezensierte alle möglichen europäischen Bücher und setzte sich mit tiefgründigen philosophischen Themen auseinander, die andere klassische europäische Dichter und Schriftsteller lang beschäftigt hatten, namentlich mit Rilke und Hölderlin», sagt Taylor.

Neben den deutschen Klassikern, darunter Robert Musils Gesamtwerk, übertrug er Homer ins Französische, übersetzte italienische Lyrik (vor allem Tasso, Leopardi, Ungaretti), spanische und tschechische Texte und sogar die japanischen Haiku-Gedichte von Matsuo Basho.

Er wagte sich zudem an die Übersetzung von Werken des russischen Dichters Ossip Mandelstam, der ihn stark beeindruckt hatte.

Pusterla erinnert sich, dass seine eigentlich gedämpfte Stimme an der Frankfurter Buchmesse plötzlich laut wurde, als er über diesen russischen Dichter sprach.

«Jaccottet stand auf, änderte seinen Tonfall und sagte: Wenn ich an Mandelstam denke, stelle ich ihn mir am Boden der Steppe vor, an der Schwelle des Todes, wie er zu uns sagt: Aufstehen, aufstehen, auch in der grössten Not!»

Taylor fragte ihn bei einem Besuch einmal, wie er es geschafft habe, all diese Übersetzungen und kritischen Arbeiten parallel zu seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit zu machen. «Er zuckte mit den Achseln und sagte: Ich weiss es nicht.»

Diese lapidare Antwort offenbart laut Taylor «all die Arbeit, den Aufwand und die finanziellen Sorgen, die das Übersetzen mit sich bringt». Es handelt sich um Themen, die er im Übrigen in der Korrespondenz mit Giuseppe Ungaretti (Correspondance 1946-1970) immer wieder aufgreift.

Ein Mann
Philippe Jaccottet erhielt 1991 den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Preis für Lyrik. Der Autor wurde später auch für sein Gesamtwerk ausgezeichnet. Keystone / Mario Del Curto

Verbundenheit mit der Schweiz

Als Schweizer war Jaccottet mit der Kultur seines Heimatlands stark verbunden. «Er verfolgte sehr genau, was in der französischsprachigen Schweiz produziert wurde», so Pusterla.

«Ein Kritiker hat die Idee geäussert, dass vielleicht das calvinistische Denken eine Rolle bei seiner direkteren Beziehung zum Alten Testament gespielt haben könnte, da er in einem stark vom Calvinismus geprägten Umfeld aufgewachsen war.»

Darüber hinaus hatte er sich auf Grund seiner Schweizer Herkunft und Schulausbildung schon früh der deutschen Sprache und Literatur zugewandt. Er vertiefte seine Deutschkenntnisse dank seines Lehrers Gustave Roud, mit dem er eine dauerhafte, von gegenseitigem Wohlwollen geprägte Beziehung pflegte.

Vor seinem Tod vertraute er sein persönliches Archivgut dem Centre des littèratures en Suisse romandeExterner Link (CLSR) an, dem Westschweizer Literaturzentrum der Universität Lausanne.

«Ich denke, diese Wahl hing mit seiner ungebrochenen Verbundenheit zu seinem Geburtsort zusammen, erfolgt aber auch aus praktischen Erwägungen», so Pusterla. «Dieses literarische Zentrum funktioniert sehr gut. Die Sammlung war sofort katalogisiert und für die Forschung verfügbar.»

Jaccottet heute zu lesen, kann von besonderem Wert sein. «Wir sind in ein Zeitalter des eindeutigen parteiischen Diskurses eingetreten, der sprachlichen Robotisierung, der winzigen Symbole, die komplexe Emotionen darstellen», stellt Taylor fest.

«In krassem Gegensatz dazu zeigt Jaccottets Werk durchwegs Nuancen, Konzentration, Ausdauer, Umsicht und eine echte Suche nach wesentlichen Wahrheiten.»

Ein Mann an einem Rednerpult
Am 30. Oktober 1988 wurde in Lausanne der «Prix lemanique de traduction» an Philippe Jaccottet verliehen. Auf dem Foto: Der Preisträger bei seiner Rede anlässlich der Preisverleihung. Keystone / Stringer

Im Zweifel und in der Ungewissheit, in den unaussprechlichen Dingen und im Rascheln der blühenden Quitte habe er diese Weisheiten gesucht. Das Bild der Quitte, welche das Leben des Dichters so veränderte, gehört im Übrigen zum persönlichen Essay «Blazon in Green and White», den Taylor auch übersetzte.

«Was Jaccottet hier erzählt, erinnert an den zentralen Punkt eines Grossteils seiner Prosa: Was ist die tiefe Bedeutung jener Momente, in denen wir plötzlich etwas sehen und den Eindruck haben, dass das ‹Gesehene› uns mehr bietet als seine blosse Materialität. Wir merken, dass eine Art ‹Schwelle› vor uns erschienen ist. Aber fast sofort stellt sich die Frage: Ist dieser Eindruck eines ‘Anderswo’ real oder nur eine Illusion?», sagt Taylor.

Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob/raf

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