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Mit dem unermüdlichen Minengegner Tun Channareth bei der UNO in Genf

Ein doppelt beinamputierter Mann in einem Rollstuhl
Tun Channareth kennt die Schäden, die Antipersonenminen anrichten, besser als viele andere, denn er trat vor 43 Jahren selbst auf eine solche Mine. Heute träumt er von einer Welt ohne diese Waffen. SWI swissinfo.ch / Rachel Barbara Häubi

Der Aktivist gegen Antipersonenminen Tun Channareth aus Kambodscha war in Genf, um die entsprechende Konvention zu verteidigen. Diese ist durch den Rückzug mehrerer osteuropäischer Länder bedroht. Ein Porträt.

«Lieben Sie den Frieden? Ja oder nein?» Tun Channareths Aufruf hallte wie ein Schuss durch das karge Internationale Konferenzzentrum in Genf.

«Ja!», antworteten Dutzende Diplomatinnen und Diplomaten einstimmig, die am Zwischensessionstreffen der Vertragsstaaten der Ottawa-Konvention teilnahmen. Diese fand vom 17. bis 20. Juni in Genf statt. Es folgte ein langer Applaus.

«Das war nicht in meiner Rede vorgesehen», sagte er mit einem Lächeln im Gesicht, als wir ihn einige Stunden später trafen. «Ich habe improvisiert. Aber es ist einfach zu sagen, dass man Frieden will. Wir brauchen Taten», fügte er hinzu. Er ist sich offensichtlich an die vollmundigen Versprechungen der Diplomatie gewöhnt.

Der 65-jährige kambodschanische Aktivist führt seit mehr als drei Jahrzehnten einen unermüdlichen Kampf gegen Antipersonenminen – diese schrecklichen Waffen, die keinen Unterschied zwischen Soldaten, Kindern, Freund oder Feind machen.

Channareth weiss davon ein Lied zu singen. Am 18. Dezember 1982 verlor er im Alter von 22 Jahren beide Beine, als er an der Grenze zwischen Kambodscha und Thailand auf eine Mine aus russischer Produktion trat.

Damals war er ein junger Soldat in der vietnamesischen Armee, die in seinem Heimatland gegen die Roten Khmer kämpfte. Er hatte diesen Entscheid aus dem Bedürfnis heraus getroffen, «Nahrung und Kleidung» zu erhalten.

«Bringen Sie mich 2025 nicht wieder zum Weinen!»

Mehr als vierzig Jahre nach seinem Unfall setzt Channareth seinen Kampf fort. Er war aus Phnom Penh angereist, um in Genf am Zwischensessionstreffen der Vertragsstaaten des Ottawa-Übereinkommens teilzunehmen.

Dieses verbietet den Einsatz, die Herstellung und die Weitergabe von Antipersonenminen. Ein Vertrag, für den er gekämpft hat und dessen Entstehung er 1997 miterlebt hat. Doch nun drohen einige Länder, auszusteigen.

Estland, Lettland, Litauen, Polen und Finnland – allesamt Nachbarn Russlands oder Weissrusslands – haben in den letzten Monaten ihre Absicht bekundet, den Vertrag zu verlassen.

Die russische Aggression in der Ukraine hat sie dazu veranlasst, wieder aufzurüsten. Und sie weigern sich, dabei auf eine ganze Kategorie von Kriegswaffen zu verzichten.

Lesen Sie auch unseren erläuternden Artikel darüber, was auf dem Spiel steht, sollten diese Staaten aus dem Übereinkommen austreten:

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«Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Länder aus dem Vertrag aussteigen», sagt Channareth sichtlich verbittert. Er will alles tun, um diese Staaten davon abzuhalten, formell ihren Austritt zu erklären.

Er wusste, dass seine Erfolgsaussichten gering sind. Aber er hoffte dennoch, ein Treffen mit ihren diplomatischen Vertreterinnen und Vertretern in Genf zu erreichen.

Kaum hatte er seine Eröffnungsrede beendet, eilte der Aktivist zwischen den Sitzreihen hindurch. Auf seinem selbst entworfenen Rollstuhl steuerte er von einer Diplomatin zum nächsten Diplomaten.

Er übergab jeder Person eine kleine Karte und sagte: «Bringen Sie mich 2025 nicht wieder zum Weinen! Verlassen Sie nicht das Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenminen.»

Während ein Diplomat ihn zu einem Selfie aufforderte, verliessen zwei Vertretende der baltischen Staaten unauffällig den Saal. Channareth drehte sich schnell um und reichte ihnen seine Karten.

Ein doppelt beinamputierter Mann in einem Rollstuhl spricht mit Personen an einem langen Tisch
Channareth nutzte seine Teilnahme am Zwischensessionstreffen der Vertragsstaaten des Ottawa-Übereinkommens, die vom 17. bis 20. Juni in Genf stattfand, um sich für eine Stärkung des Vertrags einzusetzen. SWI swissinfo.ch / Rachel Barbara Häubi

Von der Todessehnsucht zum Nobelpreis

Tun Channareth wuchs in einem vom Bürgerkrieg und später vom Völkermord sowie den Verbrechen gegen die Menschlichkeit der kommunistischen Roten Khmer verwüsteten Kambodscha auf.

Diese Gräueltaten kosteten ein Viertel der damaligen Bevölkerung das Leben, darunter auch den Vater und die Schwester des damals 15-jährigen, heutigen Aktivisten.

Vier Jahre später wurde er vom Rest seiner Familie getrennt und floh über die Grenze in ein Flüchtlingslager in Thailand. Vor Ort musste er jedoch feststellen, dass Männern keinerlei Hilfe gewährt wurde. «Nach drei Tagen ohne Essen» meldete er sich auf der Seite der vietnamesischen Streitkräfte.

Dann geschah der Unfall. Von Schmerzen überwältigt, mitten im Wald, versuchte er, mit einer Axt sein Leiden zu beenden. Doch sein Freund hielt ihn davon ab. Er wurde in ein Spital gebracht und seine Beine wurden ihm amputiert.

«Ich hatte keine Lust mehr zu leben», gesteht er mit gesenktem Kopf. Während er im Spitalbett lag und seine Frau ihr erstes Kind erwartete, hatte er keine Perspektive mehr. Es folgten Jahre des Elends.

Erst 1993 zeichnete sich eine Wende ab. In Phnom Penh schloss er sich dem Jesuit Refugee Service, einer amerikanischen NGO, an und entwarf dort Rollstühle für Opfer von Landminen. Er arbeitete auch mit behinderten Kindern und ermutigte sie, ein aktives Leben zu führen.

Kambodscha ist eines der Länder, die am stärksten von diesen Sprengkörpern verseucht sind. Solche wurden im Lauf von Jahrzehnten und Konflikten überall im Land verstreut. Seit den 1970er-Jahren wurden mehr als 65’000 Opfer gezählt, von denen etwa 20’000 getötet wurden.

Obwohl seit den 1990er-Jahren grosse Anstrengungen zur Minenräumung unternommen wurden, liegen Schätzungen zufolge noch immer zwischen vier und sechs Millionen Minen und andere nicht explodierte Munition im Boden Kambodschas.

Eines Tages hörte Channareth während der Arbeit in seiner Werkstatt eine Explosion in der Nähe. «Das war wahrscheinlich eine Mine», sagte er zu seiner Vorgesetzten.

Deren Antwort sollte den weiteren Verlauf seines Lebens verändern: «Ich habe einen neuen Auftrag für Dich. Ich möchte, dass Du sie verbieten lässt», sagte sie zu ihm.

Ein doppelt beinamputierter Mann in einem Rollstuhl und eine Frau erhalten ein Zertifikat von einem Mann
Tun Channareth neben Judy Williams bei der Verleihung des Friedensnobelpreises 1997 in Oslo, Norwegen. AP Photo /Jon Eeg / NTB / Pool

Daraufhin startete er eine rasante Kampagne. In weniger als einem Jahr sammelte er gemeinsam mit anderen Überlebenden über eine Million Unterschriften für ein Verbot von Landminen. Diese legte er dem kambodschanischen König und den Premierministern vor.

Anschliessend setzte er sein Engagement im Ausland fort und schloss sich der Internationalen Kampagne für das Verbot von Antipersonenminen an, die 1997 den Friedensnobelpreis erhielt.

«Welcher Preis?» Warum ich? Ich mache doch nur meinen Job», sagte er zu seiner Chefin, als diese ihm mitteilte, dass er den Preis im Namen der Kampagne gemeinsam mit Jody Williams, der Gründerin und Koordinatorin der Bewegung, in Oslo entgegennehmen werde.

«Ich habe sie gefragt, ob die Medaille wirklich aus Gold ist und ob ich sie verkaufen könne. ‘Nein’, antwortete sie», erinnert er sich und lacht. «Ich war arm und brauchte das Geld.»

Die eigentliche Erfüllung all seiner Bemühungen kam jedoch im Jahr 1999, als Kambodscha die Ottawa-Konvention ratifizierte. «Ich war sehr stolz», gibt er schüchtern zu.

Viele Menschen in einem grossen Sitzungssaal
Zu Beginn des Treffens erklärte der Ständige Vertreter der Schweiz bei der Abrüstungskonferenz, er bedauere die Entscheidung einiger Staaten, aus dem Vertrag auszusteigen, anerkenne jedoch ihre Bedenken. SWI swissinfo.ch / Rachel Barbara Häubi

«Wollt Ihr, dass Eure Kinder so aussehen wie ich?»

Zurück nach Genf. Heute haben 165 der 193 von den Vereinten Nationen anerkannten Staaten die Konvention unterzeichnet. Zu den Staaten, die dies nicht getan haben, gehören Mächte wie China, die USA und Russland.

«Diese Kampagne wird bis zu meinem letzten Tag andauern», sagt Channareth, der von einer Welt ohne Minen träumt. «Mein Ziel ist es, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um zu verhindern, dass Regierungen die Konvention aufgeben. Aber auch, um all jene, die es noch nicht getan haben, zu ermutigen, das Abkommen zu unterzeichnen.»

Sein Argument ist so einfach wie eindringlich: «Ich möchte ihnen meine Wunden zeigen und sie fragen: Wollt ihr, dass Eure Landsleute, Eure Kinder, so aussehen wie ich? Nein? Dann verlasst den Vertrag nicht. Vermint nicht Euer eigenes Land.»

Editiert von Virginie Mangin/sj, Übertragung aus dem Französischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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