
Demokratie in Reinkultur? Reportage von der Landsgemeinde Glarus

Sie ist Volksfest, Freiluftparty und Crashkurs in Politikwissenschaft in einem. Aber ist die alljährliche Landsgemeinde im Kanton Glarus auch demokratisch relevant?
Am ersten Sonntag im Mai sind Züge und Busse im kleinen Schweizer Kanton Glarus kostenlos und die Menschen bereits früh auf den Beinen.
Um 8 Uhr morgens sind die Strassenhändlerinnen und -händler in der Hauptstadt, die ebenfalls Glarus heisst, an ihren Plätzen, und eine Blaskapelle spielt vor dem Rathaus auf.
Armeeangehörige, Touristeninnen, Touristen und elegant gekleidete Menschen tummeln sich. Für Männer scheint das Tragen eines breitkrempigen Huts ein Zeichen der Achtung zu sein. Für ein erstes Bier ist es vielleicht gar nicht zu früh.
Der Anlass? Die Landsgemeinde, die jährliche Versammlung des Kantons unter freiem Himmel, deren Wurzeln bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen: Wenn Tausende von Bürgerinnen und Bürgern zusammenkommen, um über alles Mögliche abzustimmen, von Steuern bis zur Verkehrspolitik.
Für die Einheimischen ist sie ein Höhepunkt im Kalender. Sean Müller ist in Glarus aufgewachsen und hat in seiner Jugend mit seinen Eltern an der Versammlung teilgenommen. An vieles von dem, was dort besprochen wurde, kann er sich heute nicht mehr erinnern. Aber in einem kleinen Ort, in dem nicht viel passiert, war es auf jeden Fall ein «Happening», sagt er.
Ein paar Jahrzehnte später sind Müllers Interessen breiter gefächert. Als Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lausanne ist er dieses Jahr mit einer Gruppe von Studierenden in seine Heimat zurückgekehrt.
Sie wollen erleben, was Enthusiastinnen und Enthusiasten als die reinste Form der direkten Demokratie bezeichnen: eine Form, die es jeder einzelnen Person mit einer Stimmkarte ermöglicht, das Mikrofon in die Hand zu nehmen und vor Gleichgesinnten für neue Gesetze zu argumentieren – wenn sie sich dieser Herausforderung gewachsen fühlt.

Demokratie in Aktion
Ab 9.30 Uhr bekommen alle ihre Chance.
Nach einer feierlichen Vereidigung eröffnet der Landammann – eine Art Präsident der Kantonsregierung, der als Moderator und Schiedsrichter fungiert – die Sitzung.
Er geht die Tagesordnung durch, erläutert kurz die zwölf Punkte des Tages und verkündet dann mit rituellem Pomp: «Das Wort ist frei» («Ds Wort isch frii»).
Wenn daraufhin Schweigen folgt, wird das neue Gesetz ohne Abstimmung verabschiedet. Erhebt jemand Einspruch, gibt es eine Reihe von Kurzreden, bevor die Versammlung einen kollektiven Beschluss fasst – als Zeichen der Zustimmung werden Tausende von orangefarbenen Karten in die Höhe gehalten.
Manche Themen sind brisanter als andere. Während der kantonale Steuerfuss für das nächste Jahr ohne Einwände angenommen wird, löst der Plan, mehrere autofreie Tage pro Jahr rund um den landschaftlich reizvollen Klöntalersee einzuführen, ein halbes Dutzend Einwände aus. Nach einigen Verhandlungen wird die Zahl der autofreien Sonntage schliesslich auf drei festgelegt.
Inzwischen agieren die Rednerinnen und Redner eher nüchtern als aufbrausend. Viele befolgen die Rhetoriktipps, die in der Wochenendausgabe der Lokalzeitung erschienen sind: langsam sprechen, die Argumente klar strukturieren und daran denken, dass «Mut wichtiger ist als Perfektion”.
Die Mitbürgerinnen und -bürger, die sie zu überzeugen versuchen, sind schwer zu durchschauen. Es wird gemurrt, wenn Rednerinnen und Redner ausschweifen, oder es wird über kuriose Fragen gelacht (sollen E-Bikes an autofreien Sonntagen erlaubt sein?).
Insgesamt werden die Rednerinnen und Redner jedoch weder ausgepfiffen noch bejubelt. Die Aufforderung des Landammanns, keine einzelnen Beiträge zu beklatschen, wird befolgt. Alles bleibt ganz gesittet.

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Das soll jedoch nicht heissen, dass die Landsgemeinde keinen Eindruck macht. Fussballfans und Besuchende von Musikfestivals wissen, was geschehen kann, wenn Tausende von Menschen ihre Aufmerksamkeit auf dasselbe richten.
Wenn es sich dabei um die Schaffung von Gesetzen handelt, kann man verstehen, warum manche bei solchen Versammlungen so emotional werden. Die konservative Weltwoche bezeichnete den Glarner Anlass einmal als «Juwel der Demokratie».
Wenn die Emotionen nachlassen, kann man aber auch anfangen, einige Dinge zu hinterfragen.
Zum Beispiel, ob das Ergebnis einer verbindlichen Abstimmung wirklich von einem Mann entschieden werden soll, der in ein Meer aus Tausenden von Händen blickt und dann abschätzen muss, ob es sich dabei um eine Mehrheit handelt. Wäre es für die Glaubwürdigkeit nicht besser, wenn die Zählmethode dem digitalen Zeitalter angepasst würde?
Nein, danke, sagten die Glarner Stimmberechtigten im Jahr 2016 und lehnten den Einsatz elektronischer Wahlhilfen ab. Sie vertrauen voll und ganz auf ihren Brille tragenden Landammann.
Fällt ein Resultat zu knapp aus, werden die Karten ein zweites Mal hochgehoben und die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger erneut befragt. Auch ein dritter Versuch wäre möglich. So weit geht man heute aber nicht.
Der sehr öffentliche Charakter der Versammlung würde naiven modernen Besuchenden ebenfalls auffallen. In den meisten Demokratien ist das Stimmgeheimnis sakrosankt. Hier in Glarus heben Sie Ihre Hand in der Öffentlichkeit. Ihr Nachbar, Ihre Nachbarin weiss, wie Sie beispielsweise über das Ausländerstimmrecht denken. Könnte das nicht zu Problemen führen?
Müller spielt das herunter. «Wenn Du Dich wirklich verstecken willst, kannst Du Dich einfach irgendwohin in der Menge bewegen, wo Dich niemand kennt», sagt er. Bei mehreren Tausend Menschen (genaue Zahlen gibt es nicht) bleibe die Anonymität gewahrt.
Sollte die Menschenmenge zu klein sein, wäre das Problem weniger die Geheimhaltung als die Legitimität: Die derzeitige Wahlbeteiligung liegt bereits bei etwa zehn Prozent – sehr niedrig, selbst für Schweizer Verhältnisse.

Ist die Landsgemeinde noch relevant?
In der Zwischenzeit wird aus dem Vormittag ein Nachmittag und die Show geht weiter. Doch die Beine werden müde, die Mägen knurren. Während über kostenlose öffentliche Verkehrsmittel am Versammlungstag debattiert wird, könnte man anfangen, sich über etwas anderes Gedanken zu machen.
Ist das Feilschen um Bustickets angesichts der sich ausbreitenden Autokratien in der Welt wirklich ein demokratisches Wunder?
Geht es bei dieser aus dem 14. Jahrhundert stammenden Veranstaltung, die nur noch in den beiden Schweizer Kantonen Glarus und Appenzell Innerrhoden existiert, mehr um die Form als um den Inhalt?
Oder lässt sich die ehrwürdige Landsgemeinde, wie ein Redner am Sonntag fragte, manchmal von «Luxusproblemen” ablenken?
Sie werden nur wenige finden, die dem zustimmen würden. Es gibt so gut wie keine allgemeine Opposition gegen die Versammlung. Leute wie Müller beharren darauf, dass sie trotz aller Schwächen wichtige – und oft überraschende – Entscheide treffe.
So entschied sie beispielsweise im Jahr 2006, die 23 ehemaligen Glarner Gemeinden zu drei zu fusionieren, was schweizweit für Schlagzeilen sorgte.
2017 wurde Glarus der einzige Kanton, der 16-Jährigen das Stimmrecht gewährt. Im selben Jahr lehnte er ein Verbot der islamischen Burka ab – ein Thema, das vier Jahre später auf nationaler Ebene angenommen wurde.
«Es gibt eine Möglichkeit für fortschrittliche Entscheide in einem sehr traditionellen Umfeld – das kann ein ziemlicher Kontrast sein», sagt Müller.

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Auch in diesem Jahr gibt es einige demokratische Fortschritte. So stimmten die Bürgerinnen und Bürger beispielsweise einer Ausweitung der politischen Rechte für Menschen mit geistiger Behinderung zu. Auch die gesellschaftliche Inklusion von Menschen mit Körperbehinderung soll verbessert werden.
Während das kommunale Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer abgelehnt wurde, gibt es für eine andere Gruppe einen bescheidenen demokratischen Schub: Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer.
Bisher waren im Ausland lebende Schweizerinnen und Schweizer, die im Stimmregister von Glarus eingetragen sind, nur für die Wahlen in den Nationalrat stimmberechtigt, nicht aber für den Ständerat, die eidgenössische Kantonskammer.
Das hat sich am Sonntag geändert: Mit einem neuen Gesetz ist Glarus nun der 14. Kanton, der den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern das Stimmrecht für die Wahlen in beide Kammern des nationalen Parlaments einräumt.
Für den grünen Ständerat Mathias Zopfi ist dies ein logischer Entscheid, der eine «merkwürdige” demokratische Anomalie korrigiert.
Der andere Ständerat, Benjamin Mühlemann von der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), ist ebenfalls zufrieden, auch wenn er darauf hinweist, dass dies nur eine kleine Anzahl von Menschen betreffen wird – etwas mehr als tausend Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sind in Glarus im Wahlregister eingetragen.
In der Zwischenzeit bleibe abzuwarten, ob dieser Schritt eine «Signalwirkung» für die übrigen Kantone hat und auch sie den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern das Wahlrecht für den Ständerat gewähren, sagt Mühlemann.
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Zumindest in Glarus können sich Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer nun bei nationalen Wahlen brieflich beteiligen, ebenso wie an den mehrmals im Jahr stattfindenden eidgenössischen Abstimmungssonntagen.
Weitergehende Rechte auf kantonaler Ebene – zum Beispiel an der Landsgemeinde selbst – bleiben ihnen jedoch aus naheliegenden Gründen verwehrt: Wie die Behörden schreiben, verunmöglichen dies «das Versammlungssystem und der damit verbundene lokale Charakter der Entscheidfindung». Mit anderen Worten: Wer am ersten Sonntag im Mai nicht auf dem Platz steht, kann nicht mitbestimmen.
Editiert von Samuel Jaberg/ts, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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