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Der Aussenblick: Die Fünfte Schweiz blieb lange vergessen

Claude Longchamp
Illustration: Helen James / swissinfo.ch

Die Auslandschweizer:innen gingen verfassungsrechtlich bis 1966 ganz vergessen. Seither ist einiges gegangen, auch beim Stimm- und Wahlrecht. Das gab es in der Theorie seit 1976, in der Praxis existiert es aber erst seit 1992 – und auch das nicht ohne Probleme. Es war ein Hindernislauf.

Die Geschichte des Schweizer Stimmrechts wird eher durch Exklusion als Inklusion bestimmt. Das Muster des Staatsbürgers mit politischen Rechten war der erwachsene Mann, der in der Schweiz arbeitete und tadellos lebte.

Bis 1971 war die Schweiz die letzte Demokratie in Europa, in der nur Männer abstimmen durften.

Vom Auswanderer zu Wirtschaftsmigrant:innen

Die Exklusion galt auch für die Fünfte Schweiz. Denn die dominante Vorstellung der Auslandschweizer:innen war, es handle sich um Ausgewanderte, die der Schweiz dauerhaft den Rücken zugekehrt hätten, sei es wegen eines Bruchs mit dem Leben hierzulande, wegen Heirat oder weil sie den Lebensabend im Ausland verbringen wollten.

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Sarah Bütikofer und Claude Longchamp

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Das begann sich erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu wandeln. Immer mehr Schweizer:innen arbeiteten im Ausland. Das war für sie häufig nur ein Lebensabschnitt, verbunden mit dem Wunsch der Rückkehr.

Ein Beispiel für diesen Typus zeitweiser Arbeitsmigration waren die Angestellten der Schweizer Botschaft. Aber sie waren bei weitem nicht die einzigen.

Der Verfassungsartikel von 1966

1966 erhielten die Auslandschweizer:innen erstmals einen eigenen Verfassungsartikel. 1976 folgte das erste Gesetz, das die politischen Rechte der Bürger:innen im Ausland regelte.

Doch weil diese fürs Wählen und Abstimmen an ihren letzten Wohnort in der Schweiz reisen mussten, blieb das Stimmrecht für die Bürger:innen im Ausland meist ein theoretisches. Erst 1992 ist die erleichterte briefliche Stimmabgabe auf die Angehörigen der Fünften Schweiz ausgedehnt worden.

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Der Artikel in der Bundesverfassung von 1966 ermächtigte den Bund, “die Beziehungen der Schweizer zum Ausland unter sich und zur Heimat zu fördern, sowie den Institutionen beizustehen, die diesem Ziel dienten”. Zudem wurde der Bund befugt, einheitliche Bestimmungen zu den politischen Rechten, zur Erfüllung der Wehrpflicht und zur Fürsorge zu erlassen.

Offizielles Ja…

Der Bundesrat war 1966 dafür, das Parlament ebenfalls – beide Kammern stimmten einstimmig Ja. Hauptargument war, die Schweizer:innen im Ausland seien hervorragende Botschafter:innen des Landes in der ganzen Welt. Ihre Verbindung mit der alten Heimat solle gepflegt werden.

Im Abstimmungskampf waren alle grossen Parteien dafür. Nur der kleine Landesring der Unabhängigen enthielt sich. Keine politische Organisation gab eine Nein-Empfehlung heraus.

…dumpfe Skepsis

Das Ergebnis war schlechter als erwartet. Zwar waren alle Kantone dafür. Doch zählte man gesamtschweizerisch nur 68% Ja-Stimmen. Fast ein Drittel hatte Nein gesagt!

Das war nicht erwartet worden. Auch die für damalige Verhältnisse tiefe Stimmbeteiligung von knapp 48% zeigte, dass kein Enthusiasmus für die Auslandschweizer:innen aufgekommen war.

Besonders in ländlich konservativen Kreisen erhielt die verfassungsmässige Besserstellung der Auslandschweizer:innen wenig Sympathie. Ohne grossen Bezug zum Ausland blieben sie der traditionellen Vorstellung von dauerhafter Auswanderung verhaftet. Das neue Bild der Schweizer:innen im Ausland blieb ihnen fremd.

Widerstände inner- und ausserhalb der Organe

1972 ging man die Pendenz beim Image der Auslandschweizer:innen an. Erstmals wurde die Nationalspende am 1. August dieses Jahres für die Organisationen gesammelt, die sich den Bindungen der Fünften und der übrigen Schweiz verschrieben hatten.

Im gleichen Jahr nahm sich auch der 50. Kongress der Auslandschweizer:innen dem Thema an. Er zeigte aber eine innere Spaltung bei der Stimmrechtsfrage. Die befürwortenden Kräfte argumentierten mit der Masse an Schweizer:innen im Ausland, die nicht nur das Stimmrecht haben, sondern auch im nationalen Parlament vertreten sein sollten.

Ihre Gegnerschaft kam in erster Linie aus Ländern wie den USA. Denn die Ausübung der politischen Rechte in der Schweiz hätte amerikanisch-schweizerische Doppelbürger:innen glatt die US-Staatsbürgerschaft gekostet.

Schliesslich legte eine Expertenkommission des Bundesrats fest, dass die Auslandschweizer:innen zwar politische Rechte hätten, sie diese aber nur am letzten Wohnsitz in der Schweiz ausüben dürften.

Dieses Stimmrechtsgesetz war für die Auslandschweizer:innen lange bloss ein Pyrrhussieg. Zwar rückte man vom Grundsatz Stück für Stück ab. Doch einen Durchbruch gab es nicht.

Der vermeintliche Durchbruch

Erst 1992 änderte sich diese umstritten gebliebene Praxis grundlegend. Anlass war die Einführung der erleichterten brieflichen Stimmabgabe. Das sollte nicht nur für Bürger:innen im Inland gelten, auch für solche im Ausland.

Neu musste man fürs Abstimmen und Wählen nicht mehr an den letzten Wohnort in der Schweiz reisen. Damit erwachte das politische Bewusstsein auch bei Auslandschweizer:innen.

Es war die Zeit, als man in der Schweiz den Beitritt zum EWR, ja zur EU, lebhaft diskutierte. Die Vorstellungen nationaler Grenzen begannen zu bröckeln. Eine diskriminierende Behandlung der Fünften Schweiz schien nicht mehr opportun.

Aber dazu gab es nie eine Volksabstimmung. Vielmehr war es in einer Zeit des grossen Umbruchs ein rein administrativer Akt geblieben.

Verbliebene Hürden

Bis heute steht die Fünfte Schweiz vor Hürden: Auslandschweizer:innen, die ihre politischen Rechte wahrnehmen wollten, mussten sich anders als Inlandschweizer:innen vorerst speziell registrieren lassen. Entsprechend blieb die Beteiligung tief.

Zwischenzeitlich weiss man, dass die briefliche Stimmabgabe die Probleme nicht effizient lösen konnte. Denn die Fristen für die Abgabe seines Willens aus dem Ausland richten sich nach den Notwendigkeiten im Inland. Vor allem bei zweiten Wahlgängen, etwa bei Ständeratswahlen, erreicht die Post die Schweizer:innen im Ausland selten rechtzeitig.

Das lange ersehnte E-Voting

Neue Hoffnungen kamen mit dem E-Voting auf. Denn die digitale Partizipation macht gerade bei Auslandschweizer:innen besonders Sinn.

Allerdings steckt man auch bei den Wahlen 2023 erst in einer zweiten Probephase. Die erste wurde wegen Bedenken zum Datenschutz abgebrochen. Umfangreiche Tests sind erfolgt.

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Bis heute bleibt eine gehörige Portion Skepsis gegenüber der Neuerung. Sie verbindet sich mit einem Rest der traditionsreichen Ablehnung, dass Bürger:innen, welche die Schweiz verlassen haben, politisch mitbestimmen dürfen.

Editiert von Mark Livingston

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