
Blaue Zelte für die Erdbebenopfer von Sichuan

Nach dem Erdbeben vom 12. Mai 2008 lehnte China die von der Schweiz angebotene Hilfe ab. Nur Zelte durften geliefert werden. Der Wiederaufbau im Land erweist sich als schwierig. Eine Reportage.
Die grüne Landschaft der Provinz Sichuan ist mit blauen Punkten übersät. Wie eine Linie ziehen sich Hunderttausende von Zelten den Bergketten entlang.
Die nach dem Erdbeben vom 12. Mai von der chinesischen Armee verteilten, provisorischen Unterkünfte sind blau. Die 1000 von der Schweiz nach China geschickten Zelte haben dieselbe Farbe.
Das Erdbeben, bei dem rund 70’000 Menschen ums Leben kamen, erschütterte die ganze Region.
Im Stadtzentrum von Dujiangyan, 60 Kilometer nordöstlich der Provinzhauptstadt Chengdu, sind die Narben punktuell sichtbar – fast scheint es, als hätte die Katastrophe ihre Opfer ausgewählt. Während in einer Strasse eine Häuserreihe völlig eingestürzt ist, blieben die Gebäude gegenüber scheinbar unversehrt. Doch der Schein trügt.
Auf der grossen Strasse, die zu den Bergen hinführt, stehen die Fassaden der drei- bis vierstöckigen neuen Häuser noch auf ihren Grundfesten. Doch das Innere ist zerstört, und die Stützmauern haben Risse.
Diese Gebäude sind unbewohnbar geworden, sie sollten abgerissen werden, sagt der Geologe Beat Kunzi, der das humanitäre Programm bei der Schweizer Botschaft in Peking leitet. «Sie sind zu gefährlich geworden.»
Chinesische Spezialisten ausgebildet
Weil China weltweit die Hälfte aller Erdbebenopfer zu beklagen hat, hat das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor zwei Jahren in Peking einen Ausbildungskurs für Soforthilfe mit Suchhunden eingeführt.
Die daraus hervorgegangene Gruppe von chinesischen Spezialisten war in der Provinz Sichuan im Einsatz – allerdings ohne die Unterstützung von Schweizern.
Nach dem jüngsten Erdbeben im Mai bot die Schweizer Regierung China erneut sein Hilfe an. Die chinesische Regierung nahm das Angebot der Schweiz zuerst an. Am Flughafen in Zürich stand bereits ein Flugzeug bereit, mit Ingenieuren, Rettungsleuten, Ärzten und Material an Bord. Doch der Flug wurde im letzten Moment annulliert.
Die Lage im Erdbebengebiet sei noch zu unsicher, hiess es seitens der chinesischen Regierung. China wollte Geld und Zelte, aber keine Rettungsleute. So schickte die Schweiz ohne weiteren Kommentar über tausend Zelte in die Krisenregion.
Verstärkte Abwehrhaltung
Die chinesische Abwehrhaltung hat sich im Lauf der Wochen noch verstärkt. Waren ausländische Hilfskräfte in den am stärksten betroffenen Gebieten unmittelbar nach dem Beben noch toleriert worden, so sind sie heute unerwünscht.
In den Bergen hinter Dujiangyan hält die Armee Ausländer zurück, die nach Hongkou, dem am Epizentrum nächstgelegen Ort, gehen wollen.
Verschiedene Nichtregierungs-Organisationen, die vor Ort nur über wenig Mittel verfügen und teilweise auch etwas amateurhaft vorgehen, fragen sich, ob sie überhaupt noch in Sichuan bleiben sollen: Sie sitzen grösstenteils in Chengdu fest.
Einsatz als Propaganda
Peking vertraut allein auf die Effizienz der chinesischen Armee. Die kommunistische Partei schlägt daraus Propaganda: Am Fernsehen werden täglich Ehrenzeremonien für die Volksarmee gezeigt.
Dadurch will Peking auch einen Skandal in den Hintergrund verdrängen: Zahlreiche Schulen waren eingestürzt, weil bei deren Bau die Sicherheitsmassnahmen nicht erfüllt worden waren.
Dies ist auch ein Grund, weshalb humanitäre Organisationen und Journalisten von den Städten ferngehalten werden, wo Eltern um ihre toten Kinder weinen und ihre Wut auf die Regierung nicht verstecken.
Die Familie Wen, die in einem blauen Zelt im Stadtzentrum von Dujiangyan Unterkunft gefunden hat, beklagt sich kaum. Sie haben kein Kind verloren. Die Schule hat soeben den Unterricht wieder aufgenommen. Die chinesische Regierung habe ihre Versprechen gehalten und ihnen das Notwendige geliefert, erklären sie.
«Was uns fehlt, ist Arbeit», sagt die Mutter und stellt den Wok auf den Gas-Kocher. Doch mit der zunehmenden Hitze wird das Leben im Zelt schon bald unerträglich sein. Die Zelte werden bereits durch vorgefertigte Baracken ersetzt. Schon bald ist die Schweizer Hilfe nichts als Erinnerung.
swissinfo, Alain Campiotti, Sichuan
(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser)
Der Schweizer Fritz Schenkel, Manager des Hotel Kempinski in Chengdu, einem Palast an der Strasse zum Flughafen, fürchtete am 12. Mai um sein Leben.
Als die Erde bebte, schwankte sein Hotel während mindestens zwei Minuten. Er sah sein Ende nah.
«Alle wussten sofort, um was es ging. Ich liess das Hotel evakuieren, Elektrizität und Gas abstellen. In der ersten Nacht haben sämtliche Gäste auf der Strasse übernachtet.»
Zuerst konnten die Gäste in den unteren Etagen wieder einziehen. Die Nachbeben waren stark und die Angst vor Dammbrüchen schockte die Leute.
«Die japanischen Kunden beeindruckten mich», sagte Schenkel. «Sogar im 15. Stock liessen sie sich nichts anmerken. Sie sind es sich gewohnt.»
Schenkel war während diesen Tagen auch für die rund 20-köpfige Schweizer Gemeinde in Chengdu der Fix- und Angelpunkt.
Beim Erdbeben in der chinesischen Provinz Sichuan verloren 70’000 Menschen das Leben.
Gemäss der Uno-Welternährungs-Organisation (FAO) werden die Schäden allein für die Landwirtschaft auf 6 Mrd. Dollar geschätzt. Mehr als 30 Mio. Menschen hätten fast alles verloren, erklärte die Uno-Behörde weiter.
Gemäss der FAO wird es drei bis fünf Jahre dauern, bis sich die Landwirtschaft erholt habe.
Mehr als 20’000 Hektaren Getreidekulturen in der Provinz Sichuan, auf die 20% der chinesischen Reisproduktion entfällt, waren stark vom Erdbeben betroffen.
Die chinesische Regierung bat die FAO, den Wiederaufbau des landwirtschaftlichen Sektors zu koordinieren.

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