«Tschäggättä»: In der Werkstatt der grotesken Masken

Mit Anbruch der Dunkelheit streifen im Oberwalliser Lötschental in der Fasnachtszeit archaische und unheimliche Gestalten durch die Dörfer – die so genannten «Tschäggättä». Zwei junge einheimische Brüder halten die Tradition der handgeschnitzten Holzmasken aufrecht. SWI swissinfo hat ihre Werkstatt besucht.
Der Boden in der Werkstatt von Elia Imseng ist mit Holzsplittern und Spänen bedeckt, die Luft riecht nach Zirbenholz. Auf der Werkbank liegt eine halbfertige Maske – eingespannt in einen Schraubstock.
Die Augen, die Nase und der Mund haben bereits Gestalt angenommen. «Ich habe gestern mit dem Schnitzen begonnen», sagt Elia Imseng. Rund 20 Stunden werde er brauchen, um die Maske fertig zu stellen.
«Ich folge selten einem genauen Plan, sondern lasse mich eher vom jeweiligen Stück Holz inspirieren», sagt der 26-Jährige. Seine Familie betreibt dieses Kunsthandwerk seit Generationen. Schon sein Urgrossvater, sein Grossvater und schliesslich sein Vater waren Maskenschnitzer in Kippel im Lötschental.
Er selbst begann als kleines Kind, sich mit diesen Holzskulpturen zu beschäftigen. Zusammen mit seinem Bruder Andrea verfolgte er das kreative Schaffen seines Vaters in der Familienwerkstatt. Er fertigte erste Skizzen von Masken auf einem Holzbrett an, um sie dann von seinen Eltern realisieren zu lassen.
Mittlerweile sind Elia und sein Bruder Andrea die Hüter dieser Familientradition. «Ich habe bisher etwa 20 Masken hergestellt, jede ist einzigartig», erzählt Elia.
Von Beruf ist er eigentlich Forstwart. «Manchmal lasse ich mich von Figuren aus Horror- oder Science-Fiction-Filmen inspirieren, aber meistens mache ich sehr urtümliche Masken, ganz im Sinne unserer Tradition.»
An den Wänden hängen einige dieser Masken, die bereits vom Grossvater angefertigt wurden und der Familie Imseng besonders am Herzen liegen.
Es sind nur wenige verblieben, denn der Verkauf dieser Artefakte in den 1950er- und 1960er-Jahren war eine wichtige zusätzliche Einnahmequelle für die Familie, die hauptsächlich von der Landwirtschaft lebte.
Pro Maske konnten 50 bis 100 Franken verdient werden. Das ist mittlerweile Geschichte. «Ich verkaufe nie eine Maske, denn jede hat eine besondere Bedeutung oder ruft eine besondere Erinnerung hervor», sagt Elia und betont, dass eine gut gemachte Maske in der Lage sein muss, durch ihren Gesichtsausdruck tausend Geschichten zu erzählen.
Furchterregende und archaische Figuren
In der Werkstatt im Haus nehmen die Masken Gestalt an. Nur 200 Meter entfernt, im Raum einer Tiefgarage von Kippel, verwandeln sich Elia und Andrea hingegen in TschäggättäExterner Link.
Hier gibt es alles, was es braucht, um sich in jene archaischen und furchterregenden Gestalten zu verwandeln, die während der Fasnachtszeit auf den Strassen Jung und Alt das Fürchten lehren.
An den Kellerwänden hängen mehr als hundert Masken, die von drei Generationen von Imsenger Schnitzern geschaffen wurden. Im Lötschental gibt es rund 15 Schnitzer und 12 Maskenkeller.

Mit der Hilfe von Elias beginnt Andrea seine Verwandlung. Zuerst streift er sich eine Jutehose über und zieht eine auf links gedrehte Jacke an. Auf seine Schultern legt er eine Polsterung, die ihn imposanter erscheinen lässt.
Dann schlüpft er mit dem Kopf in einen Poncho aus Walliser Ziegenfell mit schwarzem Kragen, der in der Taille durch einen kräftigen Gürtel mit einer grossen Glocke, der so genannten «Triichla», gehalten wird.
Um seine Hände vor der Kälte zu schützen, trägt er die typischen «Triämhändsche», spezielle Wollhandschuhe. Und schliesslich das wichtigste Element: Die Holzmaske, deren Grösse zwischen 30 und 50 Zentimetern variieren kann. Elia wählt eine seiner eigenen Kreationen: eine farbenfrohe Maske mit Intellektuellenbrille und ausgeprägtem Kinn.
Unklare Ursprünge der Tschäggättä
«Über die Herkunft der Holzmasken im Lötschental kursieren zahlreiche Legenden und Theorien, doch keine davon hat eine wissenschaftliche Grundlage», erklärt Rita Kalbermatten, Kuratorin des Museums LötschentalExterner Link in Kippel.
Das älteste Exemplar der Sammlung stammte aus dem Jahr 1790. Laut Thomas Antonietti, Ethnologe und Co-Kurator des Talmuseums, liegt die Faszination dieser Tradition in ihrer geheimnisvollen Atmosphäre.

«Die erste schriftliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 1860, als der Prior Johann Baptist Gibsten das Tragen von Masken während der Karnevals verbot», so Antonietti.
Er beschrieb die «Tschäggättä» als unheimliche Gestalten, deren Gesichter mit Holzmasken bedeckt, mit Hörnern geschmückt und in Tierfelle gehüllt waren.
Der Ethnologe erläutert dann die beiden zuverlässigsten Theorien zu den Ursprüngen der «Tschäggete». Die erste besagt, dass die Tradition aus den Diebstählen der «Schurten-Diebe» entstand, die auf der Schattenseite des Tals lebten und sich verkleideten, um Bauernhöfe auf der Sonnenseite des Tals zu plündern.
Die zweite Theorie hingegen bringt die «Tschäggättä» mit den dämonischen Figuren in Verbindung, die im kirchlichen Barocktheater auftraten.
Entdeckung und Kommerzialisierung
Friedrich Gottlieb SteblerExterner Link (1852-1935), Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, war einer der ersten, der die Masken des Lötschentals wissenschaftlich untersucht und dokumentiert hat. Im Jahr 1907 veröffentlichte er eine Monographie.
Im Jahr 1916 lud er den amerikanischen Filmproduzenten Frederick BurlinghamExterner Link ein, einen Dokumentarfilm mit dem Titel «La Suisse inconnue: La vallée de Lötschental» (Die unbekannte Schweiz: Das Lötschental) zu drehen.
«In dem Film führt eine Gruppe junger Leute mit Holzmasken und Fellen einen rituellen Tanz in Blatten auf, seltsamerweise mitten im Sommer», erzählt Antonietti.

Der erste wichtige Auftritt der «Tschäggättä» ausserhalb des Tals datiert aus dem Jahr 1939, anlässlich der Landesausstellung in Zürich.
«Im Rahmen der geistigen Landesverteidigung wurden die alpinen Traditionen, darunter die Lötschentaler Masken, zu Symbolen der alpinen Kultur», so Antonietti. Was lange nur eine lokale Tradition war, wurde so zu einem Element der kantonalen und nationalen Identität.
Auch die städtische Bevölkerung der Schweiz begann sich immer stärker für dieses Brauchtum zu interessieren. Viele ins Lötschental gereiste Tourist:innen wollten von ihrem Aufenthalt eine Holzmaske als Souvenir mit nach Hause nehmen.
«Um diese Nachfrage zu befriedigen, begannen Handwerker zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren, weniger kunstfertige Masken zum Aufhängen an die Wand herzustellen und zu verkaufen», weiss Kalbermatten. Inzwischen finden sich die «Tschäggättä» in der Liste der lebendigen TraditionenExterner Link der Schweiz.
Eine Tradition im Wandel
Der Überlieferung nach durften die «Tschäggättä» ihr Unwesen in den Dorfgassen nur zwischen der Mittagszeit und sieben Uhr abends treiben, bis die Kirchturm-Glocken das Ave Maria läuteten. Das Ziel war es, vor allem Kindern und jungen Frauen Angst und Respekt einzuflössen.
«Es war ein Brauch, der unverheirateten Männern vorbehalten war», erklärt Antonietti. «Es war fast die einzige Gelegenheit für sie, unverheiratete Frauen ohne die Aufsicht des Pfarrers oder der Eltern zu treffen.»

Mit den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen im Tal seit den 1970er-Jahren hat sich der Brauch stark verändert: Die «Tschäggättä» zeigen sich seither auch nachts und unter der Maske verbergen sich nun auch verheiratete Männer, Frauen und Kinder.
Zudem werden Veranstaltungen wie der «Tschäggättu-LoifExterner Link» am Fasnachtsdonnerstag und der Umzug in Wiler am Fasnachtssamstag organisiert.
Elia und Andrea führen die Tradition auch auf eine spontanere Art und Weise fort. «Mit Freunden ziehen wir durch Kippel und seine Restaurants», erzählen sie.
«Den Abend lassen wir dann im Maskenkeller ausklingen, wo wir uns an die lustigsten Momente der vergangenen Stunden erinnern.»
Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob/jg

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