«Von meiner Rente kann ich in der Schweiz nicht leben»

Immer mehr Menschen ziehen ihr Kapital ab und wandern in billigere Länder aus: Einige tun es aus einer Not heraus, andere, weil sie sich für ein neues Leben entscheiden. Hier erzählen sie von ihren Beweggründen.
«Ich bin 65 Jahre alt. Um in der Schweiz bleiben zu können, müsste ich ein paar Stunden die Woche arbeiten, um über die Runden zu kommen. Wenn ich Arbeit für ein paar Stunden finden könnte, sagen wir in der Gastronomie, wäre das in Ordnung. Ich habe mich nun aber entschieden, das Pensionskassenkapital zu beziehen, weil ich mit der AHV und der möglichen Rente wohl nicht über die Runde käme. Es wären mit der Rente rund 2400 Franken gewesen. Jetzt bekomme ich 1870 Franken AHV im Monat, und das war’s. Dazu habe ich das Kapital, das ich bezogen habe. Ich werde versuchen, möglichst wenig davon zu verbrauchen, um meinen Kindern etwas zu hinterlassen.»
So erzählt Marcello Castelli, der vor vier Monaten in Rente gegangen ist, der italienischsprachigen RSI-Sendung «Falò» seine Geschichte. Früher war er Kellner, ein Beruf, den er heute noch gelegentlich ausübt, um etwas Geld zu verdienen.
>> Die Reportage von «Falò» (Ital.):
Wenn das Kapital bescheiden ist und man an die Kinder denkt
Castellis Pensionskassenkapital ist bescheiden. Seine zweite Säule beläuft sich auf etwas mehr als 100’00 Franken. Eine Scheidung und Beitragslücken wegen der Saisonalität seiner Arbeit haben ihren Tribut gefordert.
Selbst mit einer kleinen Rente aus der zweiten Säule wäre er finanziell am Existenzminimum angelangt, wie die Bezüger der Ergänzungsleistungen der AHV. Castelli musste sich schon vor der Pensionierung mit verschiedenen Nebenjobs über Wasser halten.
«In Apulien lebe ich mit 1200 Euro im Monat gut, mein Herz ist hier, aber ich bin gezwungen, zu gehen.»
Marcello Castelli, Rentner, ehemaliger Kellner
«Es gibt Leute, die das Glück haben, einen Ganzjahresjob zu haben, das ist gut. Aber leider gibt es viele Restaurants oder Hotels, die im Winter schliessen, weil das Tessin ein saisonales Tourismusziel ist. Und so war ich oft gezwungen, in die Arbeitslosigkeit zu gehen… Und die Beiträge für die zweite Säule wurden nicht bezahlt, und das ist dann schwierig, wenn man in Rente geht», erzählt er der RSI.
Rentner:innen, die sich zur Auswanderung gezwungen sehen
Castelli hat drei Kinder, die im Tessin leben. Aber aufgrund seiner finanziellen Situation hat er beschlossen, in einigen Jahren nach Italien zu ziehen.
«Ich komme aus Apulien und lebe seit 45 Jahren in der Schweiz. Ich habe vor, dorthin zurückzukehren. Ich habe das Geld praktisch auf der Bank, mit 1200 Euro im Monat kann ich dort gut leben. Ich muss dort nicht zu Hause bleiben und den Gürtel enger schnallen. Mein Herz ist hier, denn meine Kinder sind hier. Es tut mir leid, dass ich gehe, ich weiss nicht, ob ich weitermachen kann. Ich bin gezwungen, zu gehen, ich fühle mich gezwungen, zu gehen!»
Ein ausgeprägter Trend im Gastgewerbe
Der Trend zum Bezug des Pensionskassenkapitals ist im Gastgewerbe besonders ausgeprägt, wie die Reportage im Investigativmagazin «Falò» zeigt.
Patrick Nasciuti, Direktor von Gastrosocial, einer der grössten Pensionskassen der Schweiz mit rund 22’000 angeschlossenen Betrieben und 200’000 versicherten Arbeitnehmenden, sagt: «Der Trend zum Kapitalbezug hat in den letzten Jahren zugenommen. Wir erreichen Spitzenwerte von 80%. Wir sind definitiv eine der Kassen mit dem höchsten Kapitalbezug. Ich erkläre mir das so: Wenn ein Versicherter sieht, dass die Rente 300 oder 400 Franken im Monat beträgt, dann bezieht er das Kapital, auch wenn es wenig ist, er zieht es vor, das Kapital zu beziehen und vielleicht ins Ausland zu gehen.»
>> Wie funktioniert das Rentensystem in der Schweiz?

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Das Schweizer Rentensystem
Nur 40% der Versicherten entscheiden sich ausschliesslich für eine BVG-Rente
Der Vorbezug aus der zweiten Säule nimmt in der Schweiz generell zu. Im Jahr 2023 (letzte verfügbare Daten) bezogen 41% der neuen Bezügerinnen und Bezüger ihr gesamtes Kapital.
19% entschieden sich für einen Teil des Kapitals und einen Teil der Rente, während 40% der Versicherten sich ausschliesslich für eine monatliche Pensionskassenrente zusätzlich zur AHV-Rente entschieden.
Gabriele Pinoja, Miteigentümer eines der grössten Versicherungsmaklerunternehmen im Tessin, erklärt, dass «200’000 Franken Pensionskassenkapital eine Rente von mehr oder weniger 1000 Franken pro Monat bedeuten, was zusammen mit der AHV wahrscheinlich nicht ausreicht, um hier leben zu können… Ich würde sagen, es ist fast unmöglich… In den Fällen, mit denen ich in den vielen Jahren meiner Tätigkeit konfrontiert wurde, habe ich Menschen gesehen, die unser Land verlassen haben, die es leider verlassen mussten, um in ein Land auszuwandern, in dem das Leben weniger kostet. Oder es sind Menschen, die weiterarbeiten müssen, mit Nebenjobs, Gelegenheitsjobs, um ihr Einkommen aufzubessern, damit sie hier normal leben können.»
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Auch Personen mit höherem Kapital gehen ins Ausland
Bei denjenigen, die sich für einen Kapitalbezug anstelle einer Rente entscheiden, handelt es sich oft auch um Personen mit einem höheren Pensionskassenbetrag von mehr als 600’000 Franken.
«Die Kosten steigen, die Schweiz ist ein Land für Reiche geworden.»
Roberto und Giovanna Crivelli, Rentner:innen, die beschlossen haben, auf die Kanarischen Inseln zu ziehen.
Dies ist der Fall bei Roberto Crivelli, einem ehemaligen Mitarbeiter von SBB Cargo, der vor wenigen Tagen sein Arbeitsverhältnis vorzeitig beendet hat. Er und seine Frau Giovanna haben beschlossen, ins Ausland zu ziehen, nach Fuerteventura in Spanien, wo ihr Bruder lebt.
«Meiner Meinung nach ist die Schweiz wirtschaftlich zu einem Land der Reichen geworden», sagt Crivelli. «Sie ist zu teuer geworden. Ich weiss nicht, wohin die Reise gehen soll. Es gibt immer viele Ausgaben… die Krankenkassen gehen jedes Jahr weiter nach oben…»
Auswandern als Lebensentscheid
Es gibt aber auch Menschen, die für ein Lebensprojekt, für neue Impulse ins Ausland gezogen sind, obwohl sie im Tessin stark verankert sind. So wie Dario Trapletti. Vor mehr als vier Jahren zog er mit seiner Partnerin Lara nach Olhao im Süden Portugals.
«Wir sind nach Portugal gezogen, weil wir eine Lebensentscheidung getroffen haben», sagt er. «Wir hatten die Nase voll und waren gestresst. Wir wollten eine Veränderung. Wir eröffneten ein Bed&Breakfast, ein kleines Boutique-Hotel. Wir investierten in dieses Projekt, indem wir das Haus verkauften, das ich im Tessin hatte. Meine Partnerin hat sich ihre Pensionskasse auszahlen lassen, obwohl wir das Geld nicht brauchten, um unser Projekt zu entwickeln.»
Kapital in der Schweiz angelegt, aber teilweise risikobehaftet investiert
Doch nach einigen erfolgreichen Saisons beschlossen die beiden, mit der Arbeit aufzuhören. Trotz ihrer persönlichen Zufriedenheit verspürten sie das Bedürfnis nach mehr Ruhe.
Sie haben sich darum entschieden, ein Grundstück zu kaufen, auf dem sie ihr Nest bauen können. Den Kauf konnten sie sofort abwickeln, ohne auf einen Käufer für das Bed&Breakfast zu warten.
Trapletti hatte sein Kapital aus der Pensionskasse in der Schweiz in teilweise riskante Finanzprodukte investiert. «Als ich das Geld dann abhob, stellte ich fest, dass ich in nur einem Jahr 10% der über 200’000 Franken verloren hatte. Das war eine bittere Überraschung.»
Wie Trapletti entscheiden sich viele, nachdem sie ihr Pensionskassenkapital erhalten haben, in Finanz- und Versicherungsprodukte zu investieren. Wie findet man heraus, in welche Produkte man investieren soll?
«Wenn ich das Geld zum Leben brauche, würde ich es nicht einfach auf dem Konto liegen lassen, aber ich würde es auch nicht risikoreich anlegen», sagt Gabriele Pinoja.
«Wenn ich es anlegen würde, dann auf jeden Fall in garantierte Produkte. Es ist sehr wichtig, dass die Berater:innen den Kund:innen deutlich machen, dass man auch verlieren kann. Und das passiert zu oft nicht!»
Übertragung aus dem Italienischen mit Hilfe von Deepl: Melanie Eichenberger/me
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